Podcast zur Literarischen Woche Bremen 2012: »stadtRand+« – In einer Vorrede und vier Kapiteln nähert sich der Autor und Kulturjournalist Tim Schomacker dem Stadt-Rand. Oder besser: den Stadt-Rändern. Wohnt man dort hoch oder flach? Grün oder grau? Mit Blick auf Birken oder Bundesautobahnkreuze? Si…
Tim Schomacker, schwankungen@schwankhalle.de
Hätte man hier ein Alkoholproblem, würde man wohl eine Hecke drumbauen. Oder eine Reihe Rhododendren. Mit ihrem Roman »Last Exit Volksdorf« (Wall-Saal, 27.1.) schreibt die 1969 geborene Hamburger Autorin Tina Uebel keine Stadtteilgeschichte, sondern ein Buch über das Böse. »Ich habe sehr theoretische Überlegungen, die mich beschäftigen, wenn ich einen Roman schreibe«, sagt Uebel. »In diesem Fall war es die Frage: Wo kommt das Böse eigentlich her? Das hat mit Volksdorf, wo ich herkomme, erst einmal gar nichts zu tun.« Gleichwohl lassen sich die Mechanismen, die das Zusammenspiel ihres Figurenensembles prägen, in einem gutbürgerlichen hanseatischen Vorort wie diesem buchweltlichen Volksdorf besonders gut beobachten. Wegen der dörflichen Struktur, die neben Vertrautheit auch soziale Kontrolle bedeutet; wegen der Fallhöhen und Verdrängungsleistungen, die gesellschaftliches Ansehen so mit sich bringen. Die Reeperbahn, wo Uebel als Literaturveranstalterin und Autorin seit vielen Jahren lebt, hat andere Problemlagen. Im Telefoninterview berichtet sie über die literarische Re-Konstruktion von Vor-Orten in der österreichischen Einöde und über das Reisen nach China. – WOHER KOMMT DAS WOHNEN? Der französische Soziologe Henri Lefebvre begann in den 1960er Jahren, die Stadt noch einmal ganz anders zu denken – von den Pariser Vororten her. Im ersten Teil eines Gesprächs berichtet der Berliner Musiker und Stadttheoretiker Christopher Dell (»RePlayCity«. Improvisation als urbane Praxis. 2011) von Lefebvres »Recht auf Stadt«, davon, wie man Musik und Stadt (oder das Nachdenken darüber) zusammendenken kann und wie sich urbane Räume als soziale Praxis beständig neu konfigurieren.
Vorspann: Entlang der Begriffe Bewegung, Beobachtung und Begehren nehmen jüngere amerikanische Fernsehserien urbane Randräume in den Blick. »294 Sekunden GROSSTADTBILDER« betrachtet – gewissermaßen als Vorfilm zu dieser Ausgabe von »Wo Städte Auslauf haben« – vier ausgewählte Eingangssequenzen. – Tagsüber lädt der Berliner Autor Albrecht Selge, Jahrgang 1975, seine Hauptfigur in einer Shopping Mall in Berlin ab. Als stellvertretenden Centermanager. Nachts durchstreift Albrecht Kreutzer die Metropole als eine Art zeitgenössischer Flaneur, dem Kern- und Vorstadt Eindrücke nur so um die Ohren hauen. Bei einem Besuch in seiner Wohnung in Moabit berichtet Selge, wie es zu seinem Roman »wach« (Wall-Saal, 29.1.) kam, was es mit den urbanen Audio-Guides auf sich hat, die er als Redakteur mitproduziert, und wie in Berlin Peripherie und Zentrum gelegentlich die – scheinbar klaren – Rollen tauschen. – Noch auf der Filmhochschule begann der Dokumentarfilmer Paul Hadwiger, den eigenwilligen hessischen Unternehmer Hermann Kümmel zu beobachten. Für seinen Film »Kümmel baut« begleitete Hadwiger fünf Jahre lang das Entstehen eines Einkaufszentrums in der Stadt Rzeszów im Südosten Polens. Am Telefon berichtet er von den Dreharbeiten, von gegenläufigen Ost-West-Bewegungen sowie von biographischen und urbanen Entwicklungen im Zeichen der EU-Erweiterung.
In ihrem ersten Roman, »Ein helles und ein dunkles Haus«, erzählt die Bonner Medienwissenschaftlerin Heidemarie Schumacher (Wallsaal, 29.1.) von einer Gruppe von Menschen, die sich mitten im Gentrifizierungsprozess der Bonner Südstadt wiederfinden. In der Manier eines Chabrol oder des späten Buñuel, wie eine Rezensentin durchaus passend bemerkte, wird ein Geflecht von Beziehungen entworfen und überprüft. Dieses Beziehungsgeflecht verbindet sich mit diversen Stadtraumerkundungen, die die historischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen immer wieder anders in den Blick rücken. Was die buchweltliche Südstadt von der realen unterscheidet, warum Wohnzimmerfenster mitunter Showrooms gleichen, wie Liebe und Wohnen versuchen, sich den Bildern anzugleichen, die wir uns von Liebe und Wohnen machen, und weshalb permanente urbane Veränderung sich manchmal – wenn auch unter neuen Vorzeichen – früheren Situationen nähert, davon berichtet die 1949 geborene und auf dem Land aufgewachsene Heidemarie Schumacher im Telefongespräch.
Dass die Farbfotografie ihren Platz in der Kunstgeschichte einnehmen konnte, ist noch gar nicht so lange her. Mitverantwortlich war eine Reihe amerikanischer Fotografen, die verstärkt die Klein- und Vorstädte (wieder) in den Blick nahm. Auch der Bremer Fotograf Jan Meier reiht sich in diese Tradition ein, wie nicht zuletzt die Bilder zeigen, die unter dem Titel »Zwischenorte« (Wallsaal, ab 19.1.) während der Literarischen Woche zu sehen sind: Versuche urbaner Oasen und Lagerhallen an der Peripherie sind darauf zu sehen – und keine Menschen. Wie er zu seiner Sicht der Dinge kam, welche Rolle der Himmel und die Geometrie dabei spielen und wie er mit der Intimität umgeht, die seine Betrachtungen immer auch bedeuten, erklärt Jan Meier bei einem Atelierbesuch mit anschließendem Ausflug nach Bremen-Marßel. – Im grüneren Teil von Bremen-Nord ist die Kurzgeschichte »Molodjez!« von Betty Kolodzy angesiedelt. Wie drei Bremer Kolleg/innen begab sich die 1963 in Wolfenbüttel geborene Autorin auf Einladung des Bremer Literaturkontors ins Suburbane – und fand einen Zugang zu Knoops Park an der Lesum. In ausschnittsweiser Lesung und umrahmendem Gespräch berichtet Kolodzy, wie dieser Text zustande kam, von sprachlichen und räumlichen Brückenschlägen, sowie von ihren Rundgängen am Bosporus, deren erzählerisches Substrat im vergangenen Jahr als »Istanbul Walking« in Buchform erschienen ist. Gemeinsam mit Artur Becker, Colin Böttger und Jutta Reichelt präsentiert Betty Kolodzy ihren stadtRand+ Text im Rahmen der Veranstaltung »Ein schmaler Streifen Peripherie« (Wallsaal, 3.2.)
VOR(W)ORT in dem der Verfasser sich daran erinnert, dass er selbst vom Stadtrand stammt und in dem er feststellt, wie dieser sich inzwischen verändert hat. – Kaum jemand hat das Verfließen der Grenzen zwischen Stadt und Land so freundlich auf den Punkt gebracht wie Italo Calvino. Weil’s im Winter kalt ist, lässt er seinen Hilfsboten und Handlanger Marcovaldo nach Holz suchen. Für Holz zum Schlagen braucht man, weiß auch der Städter, einen Wald. Und findet, auf der Suche nach dem Wald, wie Marcovaldo, nur endlose Reihen immerhin ebenfalls brennbarer Billboards an der Ausfallstraße. – Im Prolog zum diesjährigen Literarische-Woche-Podcast – Wo Städte Auslauf haben – geht der Verfasser in Vorbereitung auf alle Gespräche und Rundgänge, die folgen werden, der Frage nach, wie sich Antlitz und Funktion des suburbanen Raums in seiner eigenen Lebenszeit verändert haben. Unterwegs trifft er Allegorien, Erzählfiguren und Beobachtungen von Peter Kurzeck bis zu T.S. Eliot und den Pet Shop Boys.