Podcast zur Literarischen Woche Bremen 2011: »Was fehlt – was bleibt ... ?« Strategien des Erinnerns und Vergessens in Literatur, Kunst, Film und Wissenschaft – Das Gedächtnis, sagte Walter Benjamin, ist nicht das Instrument für die Erkundung des Vergangenen, sondern deren Medium. Hören Sie vermitte…
Tim Schomacker, schwankungen@schwankhalle.de
Seit 20 Jahren lebt der Filmemacher Rick Minnich in Berlin. 1968 im kalifornischen Pomona geboren, führt sein Lebensweg – fast in einer gegenläufigen amerikanischen Grundbewegung nach Osten: Er wuchs in Arizona und Kansas auf, studierte in New York City und ging dann Anfang der 1990er Jahre nach Berlin, er an der Hochschule Konrad Wolf das Regiehandwerk lernte. Im Gespräch zeichnet Minnich seine diversen kinematographischen Beschäftigungen mit Erinnertem und Vergessenem nach. Beginnend mit »The Book of Lenins« (1996), einem skurrilen Kurzfilm über das historiographische Vakuum nach dem Ende des Kalten Kriegs, bis hin zu seinem letzten, großen Projekt. »Forgetting Dad« (30.1., 20.30 Uhr, Kino 46) ist eine filmische Suche nach Minnichs eigenem Vater, der nach einem eigentlich harmlosen Autounfall das Gedächtnis verlor und ein neues Leben zu führen begann. Abschließend einige Anmerkungen zu den Feuervorhersagen und den mythogeographischen Strategien des Kollektivs »Neue Slowenische Kunst« aus Ljubljana.
Was macht man, wenn ein Vokal auf der Fußmatte liegt? Dieser Frage geht die junge Bremer Autorin Insa Kohler, Jahrgang 1986, nach. Gemeinsam mit zwei Kolleg/innen präsentiert sie die literarische formatierte Version ihrer Überlegungen zu Vergessenem bei der Gesprächslesung »Verlustliste« (28. Januar, 20 Uhr, Lagerhaus). Im Gespräch berichtet sie vom Reiz der Slam Poetry, vom Creative-Writing-Studium in den Vereinigten Staaten und von ihren persönlichen Erinnerungsgeschichten. Auf einem Ausstellungsrundgang erzählt Arie Hartog, Gerhard Marcks Haus, von Tagebüchern in der Bildenden Kunst, Feiningers New Yorker Wehmut und der Geschichte-Werdung des Bauhauses. Abschließend einige kurze Betrachtungen zu Vaterfiguren.
Tante Sigrid sorgte für das richtige Besteck im Palast der Republik. Die Suche nach der Abrissbirne ist vergebens. Für eine Kolumne suchte die 1967 in Berlin geborene Jenny Erpenbeck nach »Dingen, die verschwinden«. So heißt dann auch das Bändchen, das sie während der Literarischen Woche vorstellen wird (23. Januar, 12 Uhr, Zentralbibliothek, Wallsaal). Dinge, die verschwinden sind noch nicht ganz weg. Ganz gleich, ob es sich um Gegenstände handelt, um Umgangsformen oder um Gebäude. Letztere spielen auch in Erpenbecks letztem Roman, »Heimsuchung« (2008), eine entscheidende Rolle. Beim Besuch in Berlin berichtet die Schriftstellerin von Nostalgie und Gegenwart, von der Erfindung der Ferien und der Beständigkeit von Gebräuchen. Anschließend berichtet der Informatiker und Datenträgerdienstleister Thorsten Jüttner beim Hausbesuch von seinen Begegnungen mit privaten und professionellen Archiven.
Ein wenig wie ein Schwamm sei er durch das Jahr 2009 gefahren, sagt der in Leipzig lebende Schriftsteller Clemens Meyer. Für sein literarisches Tagebuch »Gewalten« habe er Monate lang nach einer passenden Form gesucht: So nah an eigenen Erlebnissen, Lektüren und Beobachtungen entlang schreiben zu müssen, sei Bürde und Herausforderung zugleich gewesen, sagt Meyer (22.1., Wallsaal). Im Gespräch äußert er sich zu Fußballlokalderbies, der Magie der Zahl 11, den Verantwortlichkeiten der Autorenschaft und dem Umstand, dass, was aufgeschrieben wird, immer schon vergangen ist. Abschließend einige Betrachtungen zu Vaterfiguren.
Erst als er mit seinem letzten Buch, Le wagon (erschienen 2010), fertig war, realisierte der in Toulouse lebende Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Theaterregisseur Arnaud Rykner, dass sich Kolleginnen und Kollegen seiner Generation, er ist Jahrgang 1967, der selben Epoche, ähnlichen Erinnerungen gewidmet hatten: Den Deportationen aus dem von Deutschen besetzten Frankreich 1944. Rykners Buch gehört zu den mutigsten, sucht seine monologische Erzählstimme doch den Weg in den Eisenbahnwaggon selbst. Im Gespräch berichtet Arnaud Rykner (21.1., Institut Francais) von Leerstellen in der Familienerzählung, von erinnerungskulturellen Sichtweisenwechseln, von der Anreicherung von Namen und Daten, von seinen Zugängen zu Nathalie Sarraute und Marguerite Duras und der Frage, warum sein Buch »Nur« (2007) zugleich einen deutschen und einen arabischen Titel trägt. In der Reihe »Things We Found in the Funhouse« schließen einige Betrachtungen zur Tastatur von Tonträgerabspielgeräten diese Episode ab. Hinweis: Um keinem der Gesprächspartner einen Feldvorteil zu verschaffen, haben sich beide darauf geeinigt, das Gespräch in englischer Sprache zu führen.
Wenn Gloria Del Mazo aus ihrem Atelierfenster schaut, sieht sie die Dächer von Hemelingen. In einer früheren Kaffeerösterei arbeitet die Bremer Künstlerin mit spanischen Wurzeln an oft großformatigen Gemälden, die ohne Überlegungen zum Verhältnis von Erinnern und Vergessen nicht denkbar sind. Eine Auswahl ist während der Literarischen Woche zu sehen (Wallsaal, 14.1. bis 19.2., Eröffnung 13. Januar, 19 Uhr). Beim Atelierbesuch erzählt Gloria Del Mazo von der Logik des Logos, von ihren Wegen in die Kunstgeschichte, verschiedenen Formen des Übersetzens, einer spanisch-hanseatischen Version der PopArt, der Ikonographie des weiblichen Gesichts und der Rolle, die Nostalgie für ihre Arbeit spielt.
Mit dem Flugzeug und dem Internet spielen zwei schnelle Medien eine Hauptrolle im Roman »Andernorts« des 1961 in Tel Aviv geborenen Schriftstellers und Historikers Doron Rabinovici – weil Menschen und Informationen damit schneller anderswohin gelangen als mit dem Schiff oder dem Brief. Rabinovici berichtet von Neuigkeiten im Sprechen über die Vergangenheit, über die Unterschiede von historischem und literarischem Erinnern, über neurophysiologische Erzähl- phantasien und Tarantinos Film »Inglorious Basterds«. Abschließend geht die erste Lieferung der Kolumnenserie »Things We Found In The Funhouse« der Frage nach, wie eine fast vergessene Kinderschallplatte ein erwachsenes Leben bestimmen kann.