Ich bin Clara Neubert. Und ich denke, wir verstehen unsere Zeit nicht. Wir arbeiten. Wir lassen uns unterhalten. Wir schlafen. Und das fast immer. Ein Gegenvorschlag. In dieser Staffel treffe ich Menschen, die auf der Suche sind: Nach einem anderen Rhythmus. Nach einer anderen Gegenwart. Gemeinsam b…
Woran wir noch glauben können, ist längst nicht mehr klar. Aber es könnte sein, dass eine Antwort darauf auch kein Wissen erfordert – sondern Demut. Als ich in Dinslaken der Autorin, Kritikerin und Übersetzerin Birthe Mühlhoff begegne, setzt plötzlich der Regen ein. Auf den Stufen der katholischen Kirche breiten wir dennoch unsere Bücher aus und sprechen über Simone Weil, die schreibt: »Wir sind das, was von Gott am weitesten entfernt ist, an jener äußersten Grenze, von der aus es noch nicht völlig unmöglich ist, zu ihm zurückzukehren. In unserem Sein ist Gott zerrissen. Wir sind die Kreuzigung Gottes. Gottes Liebe zu uns ist Passion. Wie könnte das Gute das Böse lieben, ohne zu leiden? Und auch das Böse leidet, wenn es das Gute liebt. Die wechselseitige Liebe zwischen Gott und Mensch ist Leiden.«
Aller Abschied wiegt schwer. Von den Menschen, an denen wir einmal gehangen haben und auch von der Welt, die wir schlechter hinterlassen werden als sie einst war. Jede ökologische Katastrophe ist zuerst, und zuletzt, eine persönliche. Nicht auf eine Revolution der Welt sollten wir deshalb schielen, sondern auf eine fürs Leben, schreibt die Philosophin Eva von Redecker und spricht mit uns und Christa Wolf über das »schreckliche Glück« unserer Gegenwart. »Spät in der Nacht bin ich von einer Stimme hochgeschreckt und von einem Heulen. Die Stimme hatte von weither gerufen. A faultless monster! Das Heulen habe ich nach geraumer Zeit gemerkt, ist von mir gekommen. Ich habe im Bett gesessen und geheult. Mein Gesicht ist von Tränen überströmt gewesen. Soeben war in meinem Traum ein riesengroßer, naher, ekelhaft in Zersetzung übergegangener Mond sehr schnell hinter dem Horizont versunken. Am nachtdunklen Himmel befestigt gewesen. Ich schrie. Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.«
Wer in Räumen spricht, muss auf ihre Antwort gefasst sein, sagt der Schriftsteller Fabian Saul, während wir mit veganer Currywurst in seiner kleinen Wohnung in Berlin Mitte sitzen. Wer sich daraufhin zum Widerstand entschließt, muss immer achtsam sein, nicht jene vorherrschenden Geschichten anzuerkennen, die man eigentlich stürzen will. So sprechen wir über Alain Resnais’ »Letztes Jahr in Marienbad« (1961) und dessen Irrgänge. »Und wieder einmal schritt ich allein dieselben Flure entlang. Durch dieselben schweigenden Säle, dieselben Säulengänge, dieselben lichtlosen Galerien. Ich schritt durch dieselben Portale, meinen Weg suchend aus diesem Labyrinth der endlosen Pfade. Und wieder einmal war alles leer in diesem Hotel einer anderen Zeit. Die Salons leer, die Flure, Salons, die Türen, Tür um Tür, wieder Salons, die Stühle leer, die tiefen Sessel, die Treppen, die Stufen, Stufe um Stufe, die gläsernen Zierrate, diese leeren Gläser. Ein Glas, das fällt, Wand aus Glas, und Briefe. Ein verlorener Brief.«
»Ich habe von einer Brücke geträumt, die ich dir morgen zeigen werde«, sagt die Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger. Ihr Traum von nie gesehenen Orten bewegt uns gemeinsam durch Zürich. An ihnen begegnet uns Italo Calvino, mit dem wir das Fremde entziffern: » … denn die Vergangenheit eines Reisenden ändert sich mit der Wegstrecke, die er zurückgelegt hat, und wir meinen hier nicht die nächste Vergangenheit, der jeder vergangene Tag einen Tag hinzufügt, sondern die fernere Vergangenheit. In jeder neuen Stadt, in die der Reisende gelangt, findet er ein Stück seiner Vergangenheit wieder, von dem er gar mehr nicht wusste, dass er es gehabt hatte: Die Fremdheit dessen, was du nicht mehr bist oder nicht mehr besitzt, erwartet dich am Eingang zu fremden und nicht besessenen Orten.«
Hängen wir nur lang genug einem Gedanken nach, wird er irgendwann absurd. Die Unendlichkeit creept in das Denken rein, nennt das Juan S. Guse, während wir auf den royalen Parkalleen Hannovers gehen, die ihr eigenes Ende unserem Blick vorenthalten. Wir orientieren uns mit dem Schriftsteller Daniil Charms: »Und unsere Vorstellung von der unendlichen Geraden – ist eine falsche Vorstellung. Unendlichkeit in zwei Richtungen, zum Anfang und zum Ende hin, ist so unerreichbar, dass sie uns nicht einmal beschäftigt, uns nicht als ein Wunder vorkommt und, sogar mehr noch, für uns nicht existiert. Doch Unendlichkeit in eine Richtung, die einen Anfang hat, aber kein Ende, oder die ein Ende hat, aber keinen Anfang, solch eine Unendlichkeit erschüttert uns.«
Manchmal sind wir ein bisschen tot. Und das bedeutet Glück, schreibt Marguerite Duras. Wir sollten daher über diesen Tod, diese plötzliche Lücke zwischen uns und allem anderen, sprechen, folgert die Schriftstellerin Karosh Taha. Denn ihr eigener Roman, »Im Bauch der Königin«, wird selbst von Einsamkeit bedroht. Und während wir so sprechen, schaut Alfred Krupp auf uns herab. Unerschütterlich, bis wir auch von seinem Monument vertrieben werden. Und nur Duras bleibt: »Manchmal bin ich lange Zeit leer. Ich bin ohne Identität. Das macht zunächst angst. Und dann geht es über in eine Regung des Glücks. Und dann hört es auf. Glück, das heißt, ich bin ein bisschen tot. Ein bisschen abwesend von dem Ort, an dem ich spreche.«
Literatur, das kann die Geschichte von den Körpern sein. Nein, Literatur, das muss die Geschichte von den Körpern sein. Die eingeschnitten und abgestoßen, übersehen und versenkt werden. Das weiß Karen Köhler, die an ihrem Roman »Miroloi« eigens erfahren musste, was es heißt, wenn diese Körper weiblich sind. Das sagte auch Hélène Cixous, die lange vor ihr versuchte, diese Körper zu schreiben: »Mit einer Hand schreibe ich gelb, mit einer Hand schreibe ich grün, eine kleine Hand schlüpft unter meine Hand, meine Finger auf ihren Fingern, meine Doppelhand folgt hastig dem Ruf der Welt, meine Hand ritzt sich an den Dornen des Lebens, und ich schreibe blutig, schreibe kaltblütig ohne Angst, ohne Unschuld, [spüre das Geblüt der Juden in der Tiefe meiner Schrift vorüberziehen, wie sie hinter meinem Gedächtnis stillschweigend alte Psalmen singen,] spüre wie Frauen in meiner Schrift schreiben, wie sie niederkommen, Milch geben, sich allein und traurig niederlegen, fröhlich aufstehen, meine Hände gehen bald mit dem Schritt des Feuers voran, bald mit dem Schritt einer weißen Wölfin, meine Hände verkrallen sich, ihr Inneres vergießt Milchtränen.«
Senthuran Varatharajah und Rahel Varnhagen sprechen zueinander und gehen aneinander vorbei. Doch so ist die Liebe, sagt der Berliner Schriftsteller: Sie ist die Bitte nur und die Aussichtslosigkeit angesichts einer Antwort, die so nie kommt. Wir sind einander abwesend und miteinander allein. Varnhagen: »Man ist nie mit einem Menschen zusammen, als wenn man mit ihm allein ist. – Ich gehe noch weiter, – man ist nie eigentlicher, als wenn man ihn in seiner Abwesenheit denkt und sich vorstellt, was man ihm sagen will.«
Das Paradies kann die Hölle sein und die Hölle das Paradies. Anna Gien erzählt mir, warum das auf ihre Wohnung zutrifft und auch auf Menschen. Mit dem Philosophen E. M. Cioran glauben wir, für dieses Thema einen idealen Ansprechpartner gefunden zu haben. Weil er alles andere als ideal ist: »Das Paradies war nicht erträglich, sonst hätte der erste Mensch sich damit abgefunden; diese Welt ist es ebenfalls nicht, da man mit Sehnsucht ans Paradies denkt oder auf ein anderes hofft. Was tun? Wohin gehen? Tun wir einfach nichts und gehen wir nirgendwohin.«
Die Hoffnung stirbt immer zuerst. »Wir sind andauernd dabei auszuhandeln, was nicht vorangeht. Ich kann dem Sand ansehen, dass er ungeduldig rausgerendert wurde«, schreibt Joshua Groß in Mindstate Malibu und schlägt vor, wir sollten stattdessen »Flexen im High der Nutzlosigkeit«. Ich schlage vor, wir lesen zur Selbsttherapie einen »Windstrich«, eine Notiz Paul Valérys. In Nürnberg sprechen wir über seine Hoffnung aller Hoffnungen – ein letzter Trost?