Wir befinden uns inmitten eines breiten gesellschaftlichen Umbruchs: Klassische Formen von verbindlicher Zugehörigkeit nehmen ab, festgefügte Leitungsstrukturen werden immer misstrauischer beäugt und der Wunsch, sich möglichst lange alles offen zu halten, wird sehr groß geschrieben. All diese Tende…
Aktuell muss der Podcast "Fluide Kirche" leider ein bisschen pausieren. Bald geht es weiter. Es sind schon neue Folgen geplant. Alternativ sind auch die anderen Podcasts interessant: (1) Bibelkunde Neues Testament, (2) Radikale Reformation und (3) Drei Gesichter des Evangeliums.
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie Kirche auf die "Flüchtige Moderne" und die "Verflüssigung von Religion" reagieren kann: 1) Sakramentalistisch, 2) Laizzes-fair, 3) Moralisierend und 4) Event-orientiert. Jedes dieser Muster ist in gewisser Weise unbefriedigend. In einer fünften Variante geht es um "Mündigkeit" und "Bündnis". Wie gelingt es, Kirche als reflektierte Erzählgemeinschaft und konstruktiv-kritische Diskursgemeinschaft zu konzipieren?
Hinter der Formulierung "Gnade und Wahrheit" aus Joh.1,14.17 steckt die althebräische Formulierung "häsäd wä ämät". Das, was auf den ersten Blick unscheinbar aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als größter Schatz für unser Bild von Gott und die Beziehung zu ihm. Komm und tauche mit ein in diesen großartigen Ausdruck des Evangeliums. Schon in den Psalmen (85,11) steht: "Häsäd und Ämät werden sich begegnen. Gerechtigkeit und Schalom werden sich küssen." Und in den Sprüchen (3,3) finden wir die Aufforderung: "Nie sollen dich Liebe und Treue (häsäd wä ämät) verlassen, binde sie um deinen Hals und schreibe sie auf die Tafeln deines Herzens."
Im 1. Korintherbrief beschreibt Paulus den auferstandenen Christus als "mitwandernden Felsen". Das, was auf den ersten Blick kurios wirkt, deutet auf ein anderen Wirklichkeitsverständnis hin. Die alten Hebräer haben Gottes Stabilität nicht als Unbeweglichkeit, sondern als Zuwendung und Verlässlichkeit erlebt. Ihr ganzes Denken bewegte sich mehr in der Zeit als im Raum. Zeit wurde dabei weniger chronologisch, sondern vielmehr qualitativ und miteinander verschränkt verstanden. All das hilft uns, Kirche als ein "Haus in der Zeit" zu konzeptionieren.
Die Sehnsucht nach mehr Erleben öffnet die säkular-postmoderne Kultur immer mehr für buddhistischen Ansichten. Mir scheint es aber noch interessanter zu sein, das althebräische Wirklichkeitsverständnis für die heutige Zeit fruchtbar zu machen. Die Kategorie der "Zeit" ist dabei keine Bedrohung für die Kirche und ihr Wahrheitsverständnis. Im Gegenteil: Diese Impulse verweisen uns auf den personalen und beziehungsorientierten Charakter von Wahrheit. Vom jüdischen Volk können wir lernen, wie es möglich ist, eine kollektive Identität im "Fluss der Zeit" zu bewahren und zu modulieren.
Manchmal braucht es die Gegenprobe, um auf eigene Denkfallen aufmerksam zu werden. Die zen-buddhistischen Ansichten stellen massive Anfragen an das westliche Substanz-, Subjekt- und das linear-kausale Zeitverständnis dar. Möglicherweise wurden unsere Vorstellungen von einer "stabilen Kirche" und einem "zielgerichteten Weg in eine transzendente Parallelwelt" mehr von römisch-griechischer Philosophie geprägt, als von den hebräischen Grundlagen? All das kann helfen, ein klareres Profil des christlichen Verständnisses zu bekommen.
Der christliche Glaube birgt die Gefahr eines theologischen Konstruktionsfehlers: Wenn das vergangene Christusereignis mit Kreuz und Auferstehung als neuer Urmythos gedeutet wird, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Und es steigert sich noch, wenn aus der Auferstehung ein triumphales Selbstverständnis abgeleitet wird. Besser ist es, das Christusereignis als permanente Unterbrechung des religiösen Kreislaufs zu verstehen. Dann eröffnet sich neu die Weggestalt des Glaubens und die christliche Geschichte friert nicht mehr ein. Fünf Wegtypen bleiben trotz der bereits vollbrachten Erlösung am Kreuz weiterhin relevant.
Es ist irritierend: Auf der einen Seite finden wir in der Bibel viele Weggeschichten und die Betonung darauf, Jesus Christus nachzufolgen. Auf der anderen Seite wurden im Verlauf der Kirchengeschichte eine Fülle von monumentalen Sakralbauten errichtet, die alles andere als flüchtig und fluide sind. Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Am ehesten leuchtet es ein, wenn wir die kirchliche Stabilität aus dem "bereits mit Christus am Ziel"-Sein ableiten. Gottesdienstliche Versammlungen hatten den Zweck, das Himmlische gegenwärtig zu machen. Schwierig wird es aber immer dann, wenn diese Praxis aus der alten Schöpfung und dem alttestamentlichen Tempelbau hergeleitet wird. Und die Frage bleibt: Welche Theologie braucht es, damit eine christliche Gemeinschaft "auf dem Weg" bleibt?
Es gibt zwei grundverschiedene Arten des Unterwegsseins. Die erste geht von einem festen Standort aus. Bewegung ist dann etwas Sekundäres. Die zweite geht von der beständigen Bewegung aus. Anhalten ist dann eine Unterbrechung des Weges. Die erste ist das Muster der Wallfahrt, die zweite das des Pilgerns. Bis in heutige Zeit hinein lassen sich daran Grundverständnisse von "Kirche" unterscheiden. Sind Gottesdienste Ausdruck der ewigen Heimat oder fungieren sie eher als Raststätten auf dem irdischen Pilgerweg?
Ein kurzer Abstecher in die Kirchengeschichte: Ab dem 4. Jahrhundert brach das Römische Reich schrittweise zusammen. Gleichzeitig erstarkte die christliche Kirche und füllte das Machtvakuum aus. Inmitten groß angelegter Wanderungsbewegungen quer durch Europa sorgte die Kirche für Ordnung und Sicherheit. Beginnend in Ägypten kam es Anfang des 6. Jahrhunderts auch in Europa zu ersten Klostergründungen. Benedikt von Nursia betonte in seiner Orgensregel, dass es wichtig sei, nicht ziellos umherzuschweifen, sondern sich einer festen Gemeinschaft anzuschließen.
Eigentlich müsste es offensichtlich sein: Der christliche Glaube hat eine Weggestalt. Alles Wesentliche ereignet sich auf dem Weg. Die großen Leitbilder sind: Abraham, Auszug aus Ägypten, Gott im Exil. Jesus lehrt im Umhergehen. Viele seiner Begegnungen geschehen unterwegs. Berühmt ist die Geschichte von den Emmaus-Jüngern. Der Begriff für einen Weg-Glauben ist "Nachfolge". Woran liegt es, dass Kirche (fast) immer den Drang hat, sesshaft zu werden? Woran liegt es, dass die Entwicklung in Richtung "Fluide Kirche" als bedrohlich empfunden wird?
Auch wenn die Entwicklung in Richtung "Fluide Kirche" sinnvoll und wichtig ist, beinhaltet sie nicht automatisch eine Verbesserung. Anhand von Hannah Arendt und ihrer Dreiteilung der menschlichen Tätigkeiten in (1) arbeiten, (2) herstellen und (3) handeln wird versucht, fluide Dynamiken einzuordnen. Ergänzend dazu helfen die zwei grundlegenden Arten von Weltbeziehungen nach Martin Buber: Ich-Es und Ich-Du. Fluide Kirche in ihrer besten Form verfolgt den Traum von Kirche als "Haus in der Zeit", als öffentlichen "Raum der Freiheit", in dem wahrhaftige Ich-Du-Begegnungen ermöglicht werden.
Vor über 100 Jahren prägte Ferdinand Tönnies das Gegensatzpaar "Gemeinschaft und Gesellschaft". Aus seiner Sicht driftet der soziale Wandel der Moderne weg von einer "Gemeinschaft der Geborgenheit" hin zu einer "Gesellschaft der Kälte". Diese negative Wahrnehmung zieht sich auch durch christliche Milieus, sofern dort zyklisch der Verlust von Gemeinschaft beklagt wird. Wie wird auf die wachsende Sehnsucht nach Vergemeinschaftung reagiert? (1) Als rückwärtsgewandte Utopie. (2) Als situative Event-Vergemeinschaftung. Beides aber bleibt weit hinter der neutestamentlichen Vision zurück.
Vor fast 20 Jahren schrieb der Soziologe Peter Gross "Die Multioptionsgesellschaft". Darin beschrieb er die Steigerungslogik des "Immer mehr" in der Moderne. 15 Jahre zuvor sprach Peter L. Berger vom "Zwang zur Häresie". Gemeint war, dass in heutiger Zeit die Abweichung zur Normalität geworden ist. Nichts ist mehr einfach wie ein Schicksal vorgegeben, alles muss gewählt werden. Das betrifft natürlich auch das religiöse Feld. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern welche Art von Christ man sein möchte.
Zur Jahrtausendwende veröffentlichte der Philosoph Zygmunt Bauman das Buch mit dem deutschen Titel "Flüchtige Moderne". Kurze Zeit später nahm der englische Theologe Peter Ward seine Thesen auf und verlängerte sie in Richtung "Liquid Church". Weitere 10 Jahre später ist diese Diskussion auch in der katholischen Kirche in Deutschland angekommen. Sehr interessant, dass sich selbst diese Art von "stabiler Kirche" mit der Thematik auseinander setzt. Offenbar befinden wir uns gemeinsam in einer Suchbewegung, mit der Flüchtigkeit von "religiösen Konsumenten" angemessen umgehen zu lernen.
Wir befinden uns inmitten eines breiten gesellschaftlichen Umbruchs: Klassische Formen von verbindlicher Zugehörigkeit nehmen ab, festgefügte Leitungsstrukturen werden immer misstrauischer beäugt und der Wunsch, sich möglichst lange alles offen zu halten, wird sehr groß geschrieben. All diese Tendenzen zeigen sich auch in christlichen Gemeinschaften. Häufig wird dieser gesellschaftliche Trend eher negativ als Überindividualisierung, Selbstbezogenheit und Unverbindlichkeit gedeutet. Möglicherweise führt uns die "Verflüssigung von Kirche" aber auch wieder stärker an das Neue Testament heran. Es ist wichtig, diese Entwicklung aufmerksam wahrzunehmen und konstruktiv darauf zu reagieren.