Claudio Abbado war der erste Lässige in einer aufgesteiften Klassik-Welt und machte sie sinnlicher. Er stammte aus Mailand, kam über Wien und London nach Berlin. Hier begründete seine 12-jährige Ära bei den Berliner Philharmonikern ein neues Bild des Dirigenten. Er verjüngte das Orchester wie kein anderer. Abbado sprach wenig, teilte den Ruhm dafür gern mit befreundeten Solisten wie Maurizio Pollini oder Martha Argerich. Im Konzert konnte er ein Orchester ungeahnt "abheben" lassen. Exzeptionelle Aufnahmen gelangen ihm bei Mahler, Beethoven, Haydn, Rossini und einigen Verdi-Opern.
2014 wurde Claudio Abbado im Fextal bei Sils Maria bestattet, wo er oft freie Wochen verlebt hatte. Was bleibt von ihm? – außer dem Bild des ursympathischen, Bescheidenheit zum erotischen Credo erhebenden Schöngeistes? Welche Aufnahmen haben Bestand? Welche Ideen leben weiter? Aussichten auf ein glorioses Erbe.
So sympathisierend Claudio Abbado der historischen Aufführungspraxis gegenüber stand – sich die alten Werke zurückzuerobern und sie den Spezialisten der Alten Musik zu entreißen, war er nicht der Mann. Stattdessen beweisen besonders seine Haydn-, Mozart- und Pergolesi-Aufnahmen erstaunliche Bestandskraft. Sie sind besser!
Eine Chefposition auf Lebenszeit bedeutet auch ein Ende jeder Perspektive über diese Position hinaus. Bei den Berliner Philharmonikern hat sich Claudio Abbado als erster aus dieser Tradition befreit. Er gründete ein eigenes Orchester für sich. In Luzern, wo er das Mahler Chamber Orchestra zum Stamm des Lucerne Festival Orchestra machte, prägte er nochmals einen ganz neuen Stil.
Kein Dirigent kann alles. Wo sind die Schwachstellen des Universalisten Claudio Abbado? – Bei Bruckner, Liszt, Puccini oder Schumann? Abbado bei einer Schwäche zu beobachten, ist fast so schwer wie ein scheues Nachttier bei Tage. Wir wagen trotzdem einen Versuch.
Kaum hatte er 1998 angekündet, seinen Berliner Vertrag nicht über 2002 hinaus zu verlängern, wurde Claudio Abbado schwer krank. Die künstlerisch stärkste Phase seiner Zusammenarbeit in Berlin begann dennoch. Wie ist das nur möglich?! Gerade in der Krisis vollendete sich die Mission dieses Zweiflers. Eine Spätzeit zum Bestaunen.
Zum Bild eines intellektuellen Kopfes passte das zyklische Programmieren gut. "Der Wanderer", "Prometheus", "Faust" oder "Das Lächeln der Euterpe": Durch Saison-Mottos wie diese umspann Claudio Abbado sein Publikum thematisch und auf längere Sicht. Er traute den Zuhörern mehr zu. Das war der Witz daran.
Ein "familiäres Denken", also das Bilden künstlerischer Zirkel, kündigte sich bei Abbado früh an durch die Treue zu Solisten: Martha Argerich, Viktoria Mullova, Rachel Harnisch – bisweilen überlappten sich Beruf und Privates. Abbado wurde, was wenige Große waren: ein ausgeprägter Solisten-Begleiter. Wirklich selten!
Geht denn das? Ein gesellschaftskritischer Dirigent, der Wagner liebt?! Ausgerechnet "Lohengrin" widmete Claudio Abbado seine einzige Wagner-Gesamtaufnahme, um in Berlin und Salzburg noch "Tristan", "Parsifal" und Konzert-Piècen folgen zu lassen. Der Muff des 19. Jahrhunderts war dahin. Was trat an dessen Stelle?
Wien war die erste Stadt, die den Rang Claudio Abbados dermaßen klar erkannte, dass sie ihn als Einzigen bis heute zum Donau-GMD überhaupt machte. Den Wiener Philharmonikern, die sonst gern etwas schuldig bleiben, entlockte er einige ihrer besten Leistungen – wie "Wozzeck", "Pelléas" und zwei hochrangige Neujahrskonzerte.
Von wenigen ernst genommen, wurden die Werke Gioacchino Rossinis – außerhalb von Italien – erst von Claudio Abbado für würdig genug befunden, von Spitzenorchestern aufgenommen zu werden. Aus der Funktion bloßer Schleppenträgerei holte er die Begleitung souverän heraus.
Claudio Abbado schien sich für junges Repertoire stark zu machen, gründete „Wien Modern“, kehrte dann aber zur Tradition zurück. Er war ein Erneuerer, der Vorsicht bei der eigenen Revolution walten ließ. Nach Bartók, Nono und in Spurenelementen Wolfgang Rihm kam eigentlich nicht mehr so sehr viel. Nachlese einer Zukunft von gestern.
Ohne je eine politische, geschweige denn linke Parole ausgegeben zu haben, war Claudio Abbado der erste Dirigenten-Superstar mit prononciert politischem Ansehen. Vielleicht wird gerade so Politik gemacht: Indem man nicht viel darüber redet. Beruht Abbados politischer Impetus auf Wahrheit? Oder doch auf Schein?
In Wien sorgte die "Khovanschtschina" von Mussorgsky für eine Sensation, in Mailand Verdis "Simon Boccanegra". Fast unbekannte Stücke!! In Berlin war Abbado der Erste, der Mahler zur Chefsache erklärte. Was Claudio Abbado wiederentdeckt hat, gehört seither zum Mainstream. War es sein Genie? Oder sind die Stücke einfach so gut?
Ein Dirigent hat immer das letzte Wort. Was aber, wenn er fast gar nichts sagt?! Claudio Abbado, der Wortkarge und In-sich-Zurückgezogene, war der vielleicht erste Dirigent überhaupt, der seine Schüchternheit ausstellte – und musikalischen Nutzen daraus zog. Das kann man durchaus als Mirakel ansehen. Denn wer wäre ihm darin gefolgt?!
Sind Mahlers Sinfonien Berggemälde?! "Sie brauchen sich hier gar nicht so umzusehen, das habe ich alles schon wegkomponiert!", soll Gustav Mahler seinem Gast Bruno Walter in Steinach am Attersee zugeraunt haben. Abbado nahm diesen Faden auf – und verlieh Mahlers Werken zugleich ein utopisch-politisches Gepräge.
Halbszenische Opernaufführungen hat es vor Claudio Abbado in der Berliner Philharmonie nicht gegeben. Abbado hat sie eingeführt, heute machen es alle. Besonders mit einer All-Star-Besetzung in Rossinis "Il Viaggio a Reims" hat er Live-Geschichte geschrieben. Und doch eine Fehlentwicklung eingeleitet?
Claudio Abbados "Straucheln" in Berlin hat mit der Tatsache zu tun, dass seine Proben erratisch verliefen. Er sagte kaum ein Wort. Nach nebulösen Probenprozessen folgten dann – zur Verwunderung sogar der Musiker – oft gloriose Aufführungen. Wie hat er das gemacht? Hier lüften wir das Arbeitsgeheimnis eines Vertrackten.
Eigentlich war er ein Opernmann – und hat als solcher ja auch in Berlin für Furore gesorgt. An der Mailänder Scala hatte er zuvor mehr Erfolg als selbst Riccardo Muti und an der Wiener Staatsoper mehr als Karajan. War er ein guter Sängerdirigent? Oder nur der erste, für den dies nicht mehr das Erfolgsgeheimnis war?
In großen Umlaufbahnen schien Claudio Abbado Orte wie Wien oder Berlin lange Jahre zu umkreisen, bevor er in ihnen sesshaft wurde. Merkwürdigerweise findet sich auf diesem Wege, z.B. beim London Symphony Orchestra, vieles vom Besten, was Abbado überhaupt gemacht hat. Musikalische Reiseberichte – vom Feinsten.
Um zwischen den Monstern und Genies seiner Zunft nicht zerrieben zu werden, dürfte es für den scheuen Claudio Abbado besonderer Tricks bedurft haben. Das funktionierte gut. Nur wie? Gute Taktik? Oder unkorrumpierbare künstlerische Selbstständigkeit? In dieser Folge schrecken wir vor keinem indiskreten Vergleich zurück.
"Wir wunderten uns alle", so Daniel Barenboim über Claudio Abbados initiative Neigung zu Nachwuchs-Orchestern. Hat Abbado etwa die Education-Arbeit in die Welt gesetzt? Viele seiner neuen Ensembles, darunter das Chamber Orchestra of Europe, das Mahler Chamber Orchestra und das Orchestra Mozart, leben weiter.
In Wien sozialisiert, war Claudio Abbado ein oft genannter Musterschüler des berühmten Hans Swarowsky, ganz so wie Mariss Jansons, Zubin Mehta, Giuseppe Sinopoli und Iván Fischer. Sind’s angenommene Wiener Gene, die seine Basis waren? Ein Orts-Besuch, auch beim Walzer. In schönen, wienerisch versüßten Aufnahmen.
Claudio Abbado besaß ein ausgeprägtes Klassiker- und Kanon-Verständnis. Er wollte – und konnte – die „Großen Bs“ des Kernrepertoires bedienen: Beethoven, Brahms und Bruckner, notfalls Bach. Ihm gelang sogar, sich mit den neun Beethoven-Symphonien gegen Karajan und Furtwängler durchzusetzen. War er darin der Letzte seiner Art?
Weiche Revolution! Claudio Abbado war ein "Kampf-Duzer"; das war man von Karajan her nicht gewöhnt. Die Proben veränderten sich, auch ihre Anzahl. Eine "schwarze Liste" von nicht geduldeten Gastdirigenten wurde abgeschafft. Nikolaus Harnoncourt und Carlos Kleiber durften wiederkommen. Orchester und Repertoire hat Abbado wie keiner vor ihm verjüngt.
Kaum ein Dirigent hat sich stärker entwickelt, kein anderer so ausschweifende Anlaufzeiten gebraucht wie Claudio Abbado. Dennoch war der Klang, die Offenheit seiner Interpretationen, von Beginn an unverwechselbar. Wo kam er klanglich her? Was war sein Hauptgewürz? Und worin besteht seine musikalische Einzigartigkeit?
Claudio Abbado erschien als die große Sphinx, als schweigsamer Verführer und zugleich "betont italienisch" in Berlin. Seine Fräcke schienen eleganter, sein Auftreten weltgewandter, seine Verweigerungshaltung anziehender als bei jedem seiner Vorgänger bei den Berliner Philharmonikern. Steckbrief eines Vielgesuchten.