Hätte diese Sendereihe von Christine Lemke-Matwey einen Titel, sie hieße am ehesten "Schubert und unsere Zeit". Einen anderen roten Faden nämlich hat sie nicht. Ihre 21 Folgen handeln von Schuberts Aufwachsen in einem Lehrerhaushalt und von seinem Weg zur Oper, vom Mythos seines frühen Todes, von den größten Hits und den schönsten Klischees. War Schubert religiös, ist es seine Musik? Was verbindet ihn mit Wien (und Wien mit ihm)? Und was mit Goethe, ausgerechnet? Warum hatte er so viele Freunde und so wenige Frauen?
Nur etwa zehn Prozent von Schuberts Werken erscheinen zu seinen Lebzeiten überhaupt im Druck. Als er 1828 stirbt, kümmert sich sein Bruder Ferdinand um den umfangreichen Nachlass, sichtet, ordnet – und beginnt das Material zu verkaufen: an die Wiener Verleger Haslinger, Czerny und Diabelli und später an private Sammler. Noch heute sind Schuberts Handschriften teilweise weit verstreut, und es brauchte einige detektivische Energie, sie in den Bibliotheken von Wien und Berlin wieder zusammenzuführen.
Beethoven geht über Grenzen, indem er Konflikte schürt und musikalische Formen sprengt. Schubert geht über Grenzen, indem er Gegensätze miteinander leben lässt. In der Arpeggione-Sonate zum Beispiel, die er für eine Art Cello schreibt, das vom Instrumentenmarkt alsbald wieder verschwindet. Oder in seinem berühmten Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“, das Anlass zu der These gibt, Schubert sei stets poetischen Ideen gefolgt. Was fasziniert heute so viele junge Ensembles an seiner Musik?
Jenseits einschlägiger Bearbeitungen und Arrangements setzt im späten 20. Jahrhundert eine rege ästhetische Auseinandersetzung mit Schubert ein. Sein Werk scheint zeitgenössische Antworten und Fortschreibungen förmlich zu provozieren: Sinfonie-Fragmente werden ediert und ergänzt, Liederzyklen nachkomponiert, Titel geklaut und gekontert. Die Postmoderne auf der Suche nach dem ganzen, dem „wahren“ Schubert?
Schubert hat 18 Geschwister, nur acht von ihnen erreichen das Erwachsenenalter. Krankheit und Tod sind ihm seit Kindesbeinen vertraut, und so verwundert es wenig, dass schon der 14-Jährige Schillers „Leichenfantasie“ vertont – neun Strophen düsterste Grablegung eines Sohnes durch den Vater. Auch Schubert selbst verfügt über keine stabile Gesundheit, was teils seinem Lebenswandel geschuldet ist, teils seiner Syphilis-Infektion und deren Behandlung. Sein Fremdsein in der Welt, es hat auch sehr handfeste Implikationen.
Lange galt Schubert der Musikgeschichte als der Kleine, Weichliche, Weibliche schlechthin. Mit Frauen jedenfalls scheint er nicht viel am Hut zu haben. Seine Jugendliebe Therese Grob darf er nicht heiraten, weil ihm die sozialen Voraussetzungen fehlen, Verhältnisse mit Schülerinnen oder Gönnerinnen sind nicht bekannt. Welches Frauenbild verraten die Figuren seiner Opern, was steht hinter den Liedern, die er dezidiert für Frauenstimmen schreibt? Genderfragen ans 19. Jahrhundert.
Hat Schubert „Hits“ geschrieben in dem Sinne, dass sie Eingang ins kollektive Gedächtnis gefunden haben? Lieder wie „Der Musensohn“ oder „Der Lindenbaum“ passen sicher in diese Kategorie, schon von ihrem Volksliedgestus her, aber auch eine Ballade wie „Der Erlkönig“ tut es, Kammermusik wie das „Forellen-Quintett“ oder, unter den Sinfonien, die so genannte „Unvollendete“. Schuld daran sind meistens die Melodien – und ein paar unausrottbare Missverständnisse.
Wie autobiografisch ist Schuberts Liedkunst? Sein bedeutendster Zyklus, die "Winterreise", scheint diese Frage eindeutig zu beantworten. 1827, Schubert weiß um seine Krankheit, seine prekäre ökonomische Lage, die politische Depression, außerdem hadert er mit Wien, dieser Stadt so "leer an Herzlichkeit": Was hat ihm die Zukunft anderes zu bieten, als Erstarrung und Erfrorensein, in schwärzestem d-Moll? "Der Leiermann", das letzte jener 24 "schauerlichen Lieder", macht da wenig Hoffnung. Oder vielleicht doch?
Nicht von ungefähr gilt das Wandern als eines der zentralen Schubert-Motive. Der Komponist, der im Leben keine großen Kreise zieht und sich den herrschenden Verhältnissen eher beugt, als dass er sie verändert, beschwört musikalisch-rhythmisch nichts so sehr wie die Bewegung: in Liedern, Fantasien und Tänzen. Gleichzeitig tritt er dabei mehr auf der Stelle, als dass er wirklich fortschreitet. Von der Paradoxie einer zerrissenen Seele.
Schubert lebt in krisenhaften, postrevolutionären, restaurativen Zeiten. Unvorstellbar, dass ein sensibler Charakter wie er politisch nicht Stellung bezieht. Zeugnisse darüber sind freilich kaum überliefert, sei es, dass sie nach seinem Tod vernichtet wurden, sei es, dass er sich bereits zu Lebzeiten mit der Zensur konfrontiert sieht. Napoleon macht alle liberalen Hoffnungen zunichte, der Wiener Kongress tanzt entschieden rückwärts, Künstler stehen unter polizeilicher Beobachtung: Was von alledem weiß die Musik?
1827 steht Schubert als einer von 36 Fackelträgern an Beethovens Grab. Beethoven ist ein ähnlich großer Fixstern in seinem Leben wie Goethe. Immer wieder komponiert der Jüngere auf den Älteren hin – und gleichzeitig um ihn herum: sinfonisch und was die Sonatenform angeht, indem er nach einschlägigen Krisen eigene Wege findet, und im Lied, indem er dieses frühzeitig als Beethoven freie Zone ausmacht. Stationen einer Identitätssuche.
Geografisch ist Schuberts Radius begrenzt. Nach Osten hin reicht er bis Schloss Zseliz, nach Süden bis in die Steiermark, nach Westen bis Salzburg. So oft er allein bei sich in der Stube hockt, so sehr leben er und seine Freunde in einer sozialen Gegenwelt. Vor allem das Musizieren unter freiem Himmel stillt die Sehnsucht der jungen Städter nach der Natur und weckt in der Enge des Metternich-Staats ungeahnte Freiheitsgefühle. Die Landpartie als frühe Reaktion auf die Entfremdung in den Städten?
Als Schubert mit 19 Jahren aus der Wiener Vorstadt Lichtental in die Innenstadt zieht, findet er eine Reihe namhafter Freunde. Sie bilden jene verschworene Gemeinschaft, in der er sich bald „in allen Dingen verstanden“ fühlt. Die Künstlerkreise um Schober, Schwind und Spaun sind ihm sein erstes und oft einziges Publikum, auch diskutiert man hier Neuigkeiten aus Kunst, Politik und Gesellschaft. Frauen spielen dabei so gut wie keine Rolle. Wie weit geht der Männerkult?
Wie die Messe oder die Sinfonie rückt auch die Oper als repräsentative Gattung früh in Schuberts Fokus. Neun vollständige Bühnenwerke und sieben Fragmente hinterlässt er, nur drei Stücke werden zu seinen Lebzeiten überhaupt aufgeführt. Kann der Wiener Schubert keine Oper? Oder ist es die zeitgenössische Rezeption, die das behauptet und jeder anderen Lesart für immer den Riegel vorschiebt? Schubert-Opern jedenfalls sucht man auch auf heutigen Spielplänen vergebens.
Was ist Schubert für ein Mensch? Er selbst findet, er sei „für nichts als das Komponieren auf die Welt gekommen“ – und also einsam. Seine Freunde beschreiben ihn mal als wortkargen Wirtshausgänger, mal als manisch-getriebenen Arbeiter oder als einen, der mit Brille schläft, um nächtliche Einfälle sofort notieren zu können. Die Legende wiederum beharrt auf dem Bild des „Dickkopfs von Vorstadtlehrer“, der anderen zum Tanz aufspielt. Was davon stimmt? Vermutlich alles miteinander.
Schubert passt in keine Epochenschublade, sein Blick richtet sich von Anfang an mehr nach innen als nach außen. Anders als Mozart oder Beethoven ist er kein „öffentlicher“ Komponist, die Anerkennung eines breiteren Publikums bleibt ihm lange versagt. Mit seiner Musik aber schaut plötzlich auch die bürgerliche Gesellschaft nach innen und entdeckt dort – ihr Ich. Das könnte man romantisch-biedermeierlich nennen oder besser vielleicht: modern.
Wann wird aus Schubert eigentlich Schubert? Was lässt uns seine Musik nach wenigen Takten erkennen? Schubert ist ein Melodienerfinder, er singt immerzu, auch wenn gar nicht gesungen wird – das wäre ein typisches Merkmal. Ein anderes: die wiederkehrenden Figuren in der Klavierbegleitung. Oder die neuartige Rolle, die er den Terzen in seinen harmonischen Verbindungen gibt. Blicken wir ihm also über die Schulter: Kurzanalysen vom frühen Schubert des „Heidenrösleins“ bis zum späten der letzten Klaviersonaten.
Müller, Mayrhofer, Senn, Körner und Rellstab heißen die Dichter, die Schubert neben und nach Goethe vertont. Ohne Schuberts Musik wären die meisten von ihnen heute wohl vergessen. Die als „kleinmeisterlich“ geltende Lyrik befreit den Komponisten zu sich selbst – auch weil etliche Autoren seine Freunde sind. Der gegenseitige Austausch vollzieht sich auf engstem Raum und in kürzester Zeit. Verschiebt das den Blick des Komponisten für das literarische Niveau?
Schubert ist hoch belesen und zeigt als Komponist keine Angst vor Monumenten, selbst vor Goethe nicht, seinem literarischen Übervater. Dass dieser ihn gar nicht wahrnimmt, kränkt ihn, tut seiner Verehrung aber keinen Abbruch. Schubert erkennt sich in Goethe als Zeitgenossen und beschäftigt sich mit dessen Werk länger als mit jedem anderen. Und der Weimarer Staatsrat und Minister? Verpasst eine wahrhaft historische Chance.
Schon seiner Jugendliebe komponiert er ein Halleluja, und Messen schreibt Schubert sein ganzes Leben lang, sechs an der Zahl. Keine von ihnen aber enthält das im Credo erforderliche Bekenntnis zur „heiligen katholischen Kirche“: Ist Schubert gar nicht religiös? Sein Verhältnis zur Kirche als Institution und ihren „Bonzen“ gilt als distanziert, ja kritisch, bei allen Möglichkeiten, die sie dem aufstrebenden Komponisten bietet. Wirkt das bis heute nach?
Das Lernen ist für das Lehrerskind Franz fest mit der väterlichen Schule verknüpft und mit der Figur des Vaters. Das Institut, das nach reformpädagogischen Ansätzen arbeitet, erlebt er als einen ambivalenten Ort: eingeengt fühlt er sich – und gleichzeitig frei. Auch im Konvikt wird der Heranwachsende nicht glücklich, zumal man dort behauptet, ihm nichts mehr beibringen zu können. Und Schubert, der Lehrer? Unterrichtet nur in der allergrößten Not. Das Drama eines
Die Großstadt Wien lässt Schubert zeit seines Lebens nicht los. Über 15 verschiedene Adressen bezieht er, bei Freunden, Gönnern, Verwandten. Das Wiener Musikleben bietet ihm, der sich bald dazu entschließt, keinem ordentlichen Broterwerb nachzugehen, ideale Existenzchancen. Schubert nutzt sie und schreibt sich nicht nur in die Wiener Gesellschaft ein, sondern auch in eine musikalische Tradition, die bis heute lebendig ist. Vom Erfolg eines frühen Bohemiens.