Prof. Harald Seubert gibt in kurzen Episoden Impulse zum Thema Philosophiegeschichte, Politik, Glaube und was sonst noch gedacht werden kann. Mehr unter: https://harald-seubert.de/
Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ ist wie eine Landvermessung. Unterschieden wird das feste Land von dem ihm umgebenden Meer der Transzendenz. Es kann nicht nach den Kategorien erkannt, wohl aber gedacht werden. Die „Erschleichung“ der traditionellen Metaphysik sieht Kant darin, dass Aussagen über endliche Sachverhalte und über Transzendenz in ein und derselben Schlussfolgerung miteinander verbunden werden. Die Abschlussgedanken der „Metaphysica generalis“: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele können nicht zur Erweiterung der theoretischen Erkenntnis verwendet werden. Sie sind aber Postulate: theoretische Grundsätze, die als Orientierungen der praktischen Vernunft und Sinnhorizonte menschlichen Lebens bedeutsam bleiben. Überaus bedeutsam wurde Kants Destruktion des „ontologischen Argumentes“ Anselms von Canterbury für das Dasein Gottes. Da „Sein kein reales Prädikat“ sei, fügt die behauptete Existenz dem Begriff Gottes nichts hinzu. Daraus folgt aber keineswegs ein Atheismus, sondern ein der Abgrund der Vernunft, dass die Existenz des höchsten Wesens ebenso denkmöglich ist wie seine Nicht-Existenz. Kant zieht daraus die Konsequenz, das Wissen einzuschränken, um dem Glauben Platz zu geben.
Kant nennt seine ‚Kritik der reinen Vernunft‘ einen Traktat. Dies ist nicht nur mit „Abhandlung“ wiederzugeben, sondern auch mit Vertrag. Die juristische Sprache wird im Begriff der „Deduktion“ besonders wesentlich. Kategorien werden deduziert, d.h. in ihrer Rechtmäßigkeit angezeigt. Die metaphysische Deduktion folgt der Logik. Die „Vollständigkeit der Kategorientafel wird aus den Formen des logischen Urteils gewonnen. Es muss sich aber die „transzendentale Deduktion“ anschließen. Sie begründet diese Aussagen auf das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können“. Nur im „Ich denke“ haben diese Vorstellungen ihre Einheit.
Kant bahnt in seinem Hauptwerk ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (A-Auflage 1781, B-Auflage 1787) den dritten Weg jenseits von Dogmatismus und Kritizismus, indem er Sinnlichkeit und Verstand in ihrem grundlegenden Wechselverhältnis zeigt. Dies bedeutet nach „synthetischen Urteilen apriori“ zu fragen: es sind Urteile, in denen das Prädikat wesentliche Momente zum Subjekt hinzufügt und die sich dadurch von den tautologischen Aussagen der Logik unterscheiden. Die kategoriale Erkenntnis ermöglicht erst einen geordneten Zugang zur Welt. Sie ist allerdings auf Raum und Zeit bezogen, auf die Erscheinung der Welt. Raum und Zeit sind transzendentale Anschauungsformen, die aller Erfahrung vorausgehen und nur innerhalb ihrer Grenzen ist Erkenntnis möglich. Denken reicht allerdings weiter und eröffnet auch den Bereich der Transzendenz.
Es gibt wenige so grundsätzliche Weichenstellungen in der Philosophie wie bei Kant. Zu Recht setzt man ihn Platon an die Seite. Kant geht vom „Dogmatismus“ der rationalen Metaphysik einerseits (Leibniz, Wolff), vom Skeptizismus und Empirismus Humes andrerseits aus. Sie verhalten sich wie die zwei entgegengesetzten, doch tödlichen Felsen der ‚Odyssee‘, Skylla und Charybdis, zu einander. Nur in dritter, ein kritischer Weg ist möglich. Diesen wird Kant exemplarisch zeigen. Die große Aufgabe: Nicht nur eine Physik des menschlichen Geistes zu untersuchen wie Hume es tat, sondern eine „Metaphysik der Metaphysik“ zu entwickeln. Denn der Mensch hat eine Naturanlage zur Metaphysik: Die endliche Vernunft stellt unendliche Fragen. Dies führt zu bleibenden Asymmetrien
Die französische Aufklärung war vielstimmig, gelehrt, streckenweise radikal. Montesquieu studierte die Sitten der Menschen und entwickelte das Prinzip der Gewaltenteilung weiter; die Enzyklopädisten ordnen und sammeln das Wissen der Welt; der Materialismus von Helvetius und dem Baron Holbach sieht den menschlichen Körper als Mechanismus an, den Geist als empirisches Phänomen. Gott wird diesen Aufklärern zu einer „viel zu starken Hypothese“. Condorcet träumt von der Planbarkeit der Zukunft. Zu all dem setzt Rousseau einen Gegenakzent: Der Fortschritt der Wissenschaften und Künste verbessert den Menschen nicht. Reden über Tugend zeigt die Entfernung von konkreter Tugend. Kann in der Zivilisation der Naturzustand weiterwirken? Durch seinen ‚Contrat social‘ bemüht sich Rousseau genau darum.
Auf seinem ‚Mémorial‘ notiert sich Pascal die konkrete, erschütternde Begegnung mit dem lebendigen Gott. Er ist nicht der gedachte „Gott der Philosophen“. Liebe und Feuer strahlen von ihm aus. Als genialer Mathematiker und Logiker beschreibt und kartographiert Pascal die Welt der Naturgesetze. Diese Erklärungen und Beschreibungen sind der „gefallenen Welt“ angemessen. Der Glaube ist ein Wagnis: Der Sprung in eine andere Dimension. Dabei kann der Mensch nur gewinnen. Die Ordnung des Herzens ist die Ordnung der Ordnungen: Sie hält alle Ordnungen zusammen. Damit beginnt ein Pfad in die Rückgewinnung christlicher Unmittelbarkeit. Des Sprungs in die Gewissheit, die durch Reflexion nicht zu gewinnen ist. So unterschiedliche Geister wie Jacobi, Kierkegaard, Dostojewski folgen Pascals Wegen.
David Hume (1711-1776) nimmt den Faden von John Locke auf. Hume ist Skeptiker von Jugend an. Als Zwanzigjähriger notiert er schon, dass man die menschliche Natur beachten müsse, bevor man eigene Weltbilder aufstellen könne. Diese beruhen doch meist auf Phantasmen und Idiosynkrasien. Letztgewissheit gibt es nicht. Ideen sind für Hume nur „Abbilder der Wahrnehmungen“, aber nicht wie seit Platon der Schlüssel zur eigentlichen Wirklichkeit. Über die Kontingenz kann der Mensch nicht hinauskommen. Kant hatte gute Gründe, wenn er meinte, dass ihn Hume aus dem „dogmatischen Schlummer“ gerissen habe.
Locke hatte mit einem Hobbesianischen Weltbild eines starken Leviathan und einer souveränen Monarchie begonnen. Er wird aber, auch unter dem Einfluss seines Mentors Shaftesbury, zu Denker der liberalen Civil Society. Sie bildet eine Mitte zwischen dem Einzelnen und dem Staat. Kultur, Bildung, Handel sind Sache dieser Civil Society. Der Staat sollte sich auf elementare Kernaufgaben begrenzen. Der Bürger, der durch Arbeit die Natur verbessert, ist Garant der Freiheit. Es bedarf keiner letzten Prinzipien, sondern der Konventionen: Dann stellt sich Harmonie ein, wie im Taktschlag der elitären Ruderer in Cambridge, der sich wie von selbst findet, wenn jeder seinem Takt folgt. Von dieser Zivilisiertheit und der Einschränkung staatlicher Macht kann die kontinentale, vor allem die deutsche Philosophie viel lernen. Gerade heute!
John Locke (1632-1704) ist ein ähnlich umfassender weitgespannter Geist wie Leibniz. Ehrentitel, die er schon zu Lebzeiten erhalten hat, geben davon ein Zeugnis ab: Locke wird als „moderner Aristoteles“ bezeichnet, eine Benennung, die er ablehnt, und als „Philanthropus“: als Menschenfreund, was er sich gern gefallen lässt. Mediziner, Mathematiker, Ökonom, Historiker: All dies war Locke in einer Person. Doch die theoretischen Interessen verfolgte er in pragmatischem Interesse, um das Leben besser zu machen. Very british möchte er „zum easy going“ beitragen. Alle Erkenntnis beginnt für den großen Empiristen mit der Erfahrung. Zuerst ist der menschliche Geist eine tabula rasa. Durch Erfahrungen gelangt man zu Bildern und so zu Reflexionen und Begriffen. Königsweg ist die Induktion: Philosophie bleibt in der Ebene des Common sense.
Während die letzten Gründe in der rationalistischen Metaphysik zwischen Descartes, Spinoza und Leibniz verfolgt werden, vertraut sich die britische Philosophie den Wegen der Erfahrung an. Zwei respektable und komplementäre Ansätze. Es ist nicht zufällig, wo sie herkommen. Der britisch angelsächsische Weg bleibt bis heute in der „analytischen Philosophie“ virulent. Eine konstitutionelle Monarchie und eine stabilisierte Gesellschaft kennen mehr Selbstverständlichkeiten als die vom dreißigjährigen Krieg drangsalierte Mitte Europas. Common sense und Sympathie als Grundempfindung ergänzen die pragmatische Vernunft. Adam Smith entwickelte aus demselben Geist die ökonomische Lehre von der „invisible hand“, die ins Spiel der wirtschaftlichen Interessen eingreift und sie harmonisiert.
Leibniz‘ Grundsatz der prästabilierten Harmonie hat auch für die Betrachtung der verschiedenen Kulturkreise seine Bedeutung. Leibniz beobachtet, dass auf der Gegenküste der Welt, im fernen China, in ähnlicher Weise nach Mitte und Maß, dem Ausgleich des Einen und Vielen gesucht wird wie in Europa. So interpretiert er das Buch Tao-Te-King des Lao-Tse („Weg-Tugend-Buch) als Gegenstück zu Aristoteles Ethik mit ihrer Suche nach Mitte und Maß. Alles soll nach Möglichkeit in einem Ausgleich stehen: So auch Pflicht und Glück, der natürliche und der sittliche Mensch, Tatsachenwahrheiten und ewige Wahrheiten. Im Geist des großen Leibniz haben Christian Wolff und Christian Thomasius im 18. Jahrhundert diese beeindruckende enzyklopädische Lehre systematisiert und weiterentwickelt.
Leibniz‘ überragendes Genie überwand auch andere Grenzen: Er entwickelte einen universellen Logik-Kalkül, eine Begriffsschrift, die für alle Denkoperationen geeignet sein sollte. Zugleich aber studierte er die Pluralität der Sprachen und blickte mit Faszination auf China, die Gegenküste Europas. Leibniz ging von der „besten aller möglichen Welten“ aus, worin für ihn auch die Antwort auf die Theodizeefrage impliziert war. Leid und Grausamkeit der Welt warfen zunehmend die Frage auf, ob alles, was geschieht, einen zureichenden Grund hat.
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) ist neben Descartes und Spinoza der dritte der großen rationalistischen Philosophen der Neuzeit. Kein Spinozanischer Monismus und kein Cartesischer Dualismus, sondern eine Metaphysik der unendlich vielen einzelnen Substanzen wird in seinem Denken expliziert. Die Dinge sind ihrem metaphysischen Wesen nach Monaden, fensterlos, aber, wie in barocken Spiegelsälen, einander ins Unendliche spiegelnd. In ihrer Fluchtlinie verweisen sie auf die Zentralmonade, die Darstellung des Gottesgedankens. Keine zwei Dinge unter der Sonne gleichen einander. Nicht einmal ein Blatt gleicht dem anderen. Ähnlichkeit, also das Zusammenspiel von Identität und Differenz bestimmt die Ordnung der Dinge, die immer wieder auf die philosophische Grundfrage zurückgeführt wird, vor der auch Schelling und Heidegger staunend und erschreckend stehen bleiben werden: Warum ist Seiendes und nicht vielmehr nichts?
Philosophie ist dort, wo sie aufs Ganze geht, nicht nur Frage nach einzelnem Seienden, sondern nach der Welt im Ganzen. Und sie ist Frage nach Gott. Dies zeichnet sich seit Platon und Aristoteles ab; es durchdringt unter christlichem, aber eben auch jüdischem und islamischem Horizont die mittelalterlichen Transformationen des antiken Denkens. Dieser Fragezusammenhang von Gott und der Welt wird uns auch auf unserem exemplarischen Weg durch die neuzeitliche Philosophie begleiten. Damit sind Philosophie und Theologie wie Schwestern, manchmal in Spannung, manchmal im Konsens. Sie sind ohne einander nicht zu denken, auch wenn im Ansatz der Philosophie Gedanke, Begriff und Problemgeschichte bestimmend bleiben, während Theologie nicht ohne die Autorität der Offenbarung und die Flankierung des Bekenntnisses sein kann.
Seit Platon und Aristoteles suchte die antike politische Philosophie nach dem guten Leben in gemeinsamen Institutionen. Seit der frühen Neuzeit vollzieht sich auch hier eine Entzauberung der Verhältnisse. Die Frage von Nicolo Machiavelli (1469-1527)richtet sich nicht auf die Qualität der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auf Machterwerb und Machterhaltung. Thomas Hobbes (1588-1679) beschreibt im England der Konfessionskriege den Menschen als Wesen zwischen Furcht und Größenwahn. Deshalb kann der Mensch dem Menschen zum Wolf werden; und es ist eine Vertragskonstruktion nötig, die Freiheit preisgibt, um Sicherheit zu gewinnen: Mythos und Maschine verbinden sich in jenem „Leviathan“, den Hobbes als den „sterblichen Gott“ bezeichnet.
Die neuzeitliche Rationalität hat offensichtlich mehrere Väter. Neben Decartes ist auch Francis Bacon(1561-1626) zu nennen. Er geht den Weg des Experiments und der methodisch kontrollierten Erfahrung. Sein ‚Novum Organon‘ ist die Antwort auf Aristoteles. Ein „non plus ultra“, eine letzte Grenze wissenschaftlicher Neugierde und Weltbefragung soll es gerade nicht geben. Es geht immer weiter: in einer Kumulation des Wissens und einer Klärung Erkennens, die zugleich die Idole, die Scheinbilder zerstört, die sich der menschliche Geist immer wieder erzeugt.
Descartes Suche nach dem schlechthin gewissen Fundament führt zur Unterscheidung von Subjekt und Objekt, „Res cogitans“ und „res extensa“, Geist und Materie: einem neuzeitliches Denken tief prägenden Dualismus. Eine andere Konzeption ist aber möglich. Dies zeigt der faszinierende Anspruch von Baruch de Spinoza (1632-1677). Ihm zufolge gibt es nur eine Substanz: die Absolutheit Gottes. Denn einzig er ist aus sich selbst. In ihm sind die beiden Cartesischen Momente, cogitatio und extensio, verbunden. Sie sind daher seine Attribute, die sich weiter modifizieren: Das philosophische Denken des Einen, eine Onto-theologie, ist seit Parmenides nicht mit einer solchen Konsequenz betrieben worden. Bei Spinoza geschieht dies freilich mit dem Beweisanspruch der Euklidischen Geometrie, in einem Gefüge von Prinzipien und Sätzen. Indes: Spinozas Interesse geht auch auf die Frage, wie man leben soll. Der Mensch, der von seinen Affekten frei wird, gibt sich preis und tritt in die Eine Substanz Gottes ein. Einsicht in diese Notwendigkeit ist Freiheit.
Das: ‚Ich denke‘ ist ein Fundament. Doch wie stabil ist die Gewissheit, die von ihm ausgeht? Descartes bleibt jedenfalls mit der überlieferten Metaphysik überzeugt, dass dieser endliche Absolutheitspunkt der Subjektivität nur Ausfluss des unendlichen Absolutheitspunkte ist. Deshalb bleibt der Gottesgedanke unhintergehbar. Mehr noch: er schließt gerade an das „Unum argumetum“, den ontologischen Gottesbeweis von Anselm von Canterbury an, nicht zum Schein und nicht aus Furcht vor der Zensur, sondern aus philosophischer Überzeugung. Faszinierend ist Descartes gerade durch diese janusköpfige Orientierung seiner Philosophie. Dazu gehört auch, dass er wusste, dass die Fragen der Moral, jedenfalls bis auf weiteres, nur provisorisch verstanden werden können.
Bei René Descartes (1596-1652) meinte Hegel, endlich festen Boden nach langer Fahrt auf den offenen Meeren des Denkens erreicht zu haben. Descartes erhebt in einer von wissenschaftlichen Innovationen reichen und von den Erschütterungen der Konfessionskriege gezeichneten Zeit den Anspruch, einen festen Punkt zu gewinnen. Letztbegründung, der Anspruch, die Philosophie als Wissenschaft zu fundieren, wird eindrucksvoll in seiner Suche nach dem „fundamentum inconcussum“ dokumentiert. Wenn ich zweifle, kann ich an einem doch nicht zweifeln, an dem zweifelnden, also denkenden Ich. Trifft das zu? Ist es gar ein Syllogismus, wobei Friedrich Schillers Überlegung zu bedenken bleibt: „Ich war wirklich schon oft und habe gar nichts gedacht“?
Mittelalterliches philosophisches Denken bildet sich in drei Grundformen aus: in der hochentwickelten scholastischen Disputationskunst mit den Exponenten Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Hier zeigt sich die Komplementarität von Glaube und Vernunft. Neben diesen eher aristotelisch geprägten Ansatz tritt die mystische Versenkung in das Eine, die den Platonischen Aufstieg zur höchsten Idee mit der tiefsten christlichen Gotteserfahrung verbindet (Meister Eckhart). Im Universalienstreit wird, prominent bei Johannes Duns Scotus und William von Occam, die Frage aufgeworfen, ob die Grundbegriffe eine eigene Existenz haben, oder ob das Sein nur den Einzeldingen zukommt (haecceitas). Damit wird die Verbindung zwischen Glaube und Vernunft, Philosophie und Theologie gelockert. Gottes Wille richtet sich nicht nach Maßstäben der metaphysischen Vernunft. Ein Einschlag, der im Verlauf der Neuzeit nach und nach erwogen werden wird.
Das mittelalterliche Denken ist nicht nur hell. Es ist auch voller Diskussion und genauen Unterscheidungen. Duns Scotus (1266-1308) und William von Ockham (1285-1347) gehen mit Verve der Frage nach, ob die Grund- und Allgemeinbegriffe „Universalien“ eigenständige Wesen haben oder nicht. Doch welches? Ockham kommt zur Erkenntnis, dass nur Einzeldinge (individua) ein solches Wesen haben. Sein kommt nur ihnen zu. Damit wird die Kluft zwischen Glauben und Wissen dramatisch vertieft: zum Guten oder zum Schaden von beidem? Darum kreisen die Debatten noch heute.
In seinen deutschen Texten wagt Eckhart den Blick in diesen „Lichtabgrund“, den man erst sehen kann, wenn man alles andere, Relative, hinter sich lässt: Dieses Verlassen-Können nennt Eckhart auch „Gelassenheit“. Denn „nur das eine macht uns selig“. Als Mystiker nähert er sich intuitiv dem Wesen des Absoluten. Aussagen, die der Mystiker trifft, gehen über dogmatische Unterscheidungen hinaus. Dies führte zu Anklagen gegen den Mystiker, die Meister Eckhart gar als „Wildsau im Weinberg des Herrn“ denunzieren.
Meister Eckhart (1260-1328)verbindet die hohe Kunst des scholastischen Denkens mit der Intuition des Mystikers. Wo es um die Schau des Absoluten geht, lässt der Geist die Unterscheidungen hinter sich, denn das Absolute ist das ganz Andere. Es ist jenseits der Verneinungen und Grenzbestimmungen: Negatio negationis oder reine Bejahung. Eckhart ist überzeugt, dass mit den „Günden der Philosophen („Rationes philosophorum“) in anderer Weise das Selbe gesagt und gezeigt wird, was die Bibel erfasst. So kann ausgehend an Gottes Selbstoffenbarung am Dornbusch (Ex 3,1-4,17)Eckhart formulieren: „Deus est esse“: „Gott ist das Sein“.
Mit Aristoteles fragt auch das Mittelalter nach dem Wesen alles Seienden. Dieser zielhafte Zustand, auch des menschlichen Glücks, erfüllt sich aber erst in der Transzendenz, bei Gott. Die Grundbegriffe, die Transzendentalien, gehen davon aus, dass die umfassenden transzendenten Wesensbegriffe wie Gutes und Wahres ineinander konvertierbar sind und einander wechselseitig fordern. Die Frage, welche Rolle das Sein innerhalb der Transzendentalien einnimmt, hält Theologie und Philosophie neben der Gottesfrage in Atem, bis heute.
Thomas‘ Lehrer Albertus Magnus (1199-1280) unterschied bereits die Philosophie in ihrem weltlichen Erkenntnisinteresse von der Theologie und räumte ihr große Freiheiten ein. Auch die empirische Erforschung der Natur kultivierte er in einem neuen, frischen Aristotelismus. Thomas gab dann dem mittelalterlichen Wissenszusammenhang von Gott und Welt in seinen großen Summen (Summa theologiae und Summa contra gentiles: gegen die Heiden) bleibende Form. Sein Denken führt zu Entsprechungen, Analogien. Eine Analogie bestimmt sich dabei immer von einem Ursprung her, von dem sie ausstrahlt. Dies kann, nach einem jahrhundertelang bindenden Grundsatz nicht das Bedingte, es muss das Unbedingte sein.
Der Begriff Scholastik kommt von „Schola“, die Schule. Eine hervorragende Schule ist das hochmittelalterliche Denken noch heute. Die Kunstform der Disputation, der Quaestiones und ihrer Debatten, nötigte zum Wettstreit um die Wahrheit und dazu, die Auffassung des Gegners zunächst in eigenen Worten wiederzugeben. Inhaltlich ist es die große Leistung von Denkern wie Thomas von Aquin (1225-1274) das antike, vor allem aristotelische Erbe mit der christlichen Offenbarung zu verbinden. Zwischen der Philosophie und der Theologie als Doctrina Sacra wurde unterschieden, doch nur, um beide aufeinander zu beziehen. Denn: Die Offenbarung vollendet die Natur, sie widerspricht ihr aber nicht. Und entgegen dem Vorurteil: Das philosophische Mittelalter ist alles, nur nicht finster.
Im Denken der frühen Neuzeit spielt Nicolaus Cusanus, Nikolaus von Kues (1401-1464) eine kaum zu überschätzende Rolle: Er wagt es, den Zusammenfall der Gegensätze, des Endlichen und des Unendlichen, in den Blick zu nehmen und er tastet sich gegen Ende seines Lebens zum letzten und tiefsten Gottesnamen vor: Gott ist das „Können selbst“, die Bedingung der Möglichkeit von allem anderen, denn er darf nicht aus einem Gegensatz, er muss aus sich selbst erfasst werden.
Bei Anselm begegnet ein Denken, das in seinem Fragen sich zugleich des Beistandes Gottes versichert: Er betet zu Gott mit Gottes Wort (v.a. in den Psalmzitaten). Wie sich ein solches Denken zu der (vermeintlichen) Säkularität der Moderne verhält, wird geprüft – mit Seitenblicken auf die neuen Verschränkungen von Glauben und Vernunft im Denken von Moderne, Post- und Hypermoderne.
Die Realität des Göttlichen und damit Gottes war für die antike Philosophie unbestreitbar. Anselm von Canterbury, auch: Anselm von Aosta (1034-1109) suchte nach dem einen Argument, das zeigt, dass einzig Gott notwendigerweise gedacht werden muss: nicht nur als Möglichkeit, sondern als notwendige Wirklichkeit. Wie dieser Gedanke aussieht, wie er begründet wird und wer bzw. was gegen ihn sich aussprach erfahren Sie hier.
Augustinus zeigt, dass der Grund des Menschen in dem Gott liegt, der von sich sagen kann: „Ich bin ich“, oder „Ich werde sein, der ich sein werde“. Rudolph Berlinger (1907-1996) sprach deshalb von der „Exodusmetaphysik“. Sie gipfelt darin, dass Augustinus die Dreieinigkeit Gottes als universale Wahrheit versteht, die im menschlichen Geist und in der natürlichen Welt vielfache Abbilder und Spiegelungen hat: etwa in der Dreiheit von Denken, Fühlen, Wollen. Dass Gott ein dreieiniger ist, ist und bleibt ein Geheimnis. Doch viele Spuren weisen darauf hin, dass es so sein muss.
Dasselbe menschliche Ich verweist bei Augustinus aber auf seine Geschichte und seinen Grund. Entscheidend bei der Identifikation sind die Memoria (Gedächtnis) und das Nachdenken über die eigene Zeit. Von ihr meinen wir zu wissen, was sie ist, wenn wir nicht danach fragen, oder gefragt werden; wenn wir aber danach gefragt werden, ist alles offen. Wie Augustin in seinen ‚Confessiones‘ sagt, steht und ruht die eigene Zeit in Gott. Alles Nachdenken über die Zeit bis in die Gegenwart ist Aurelius Augustinus‘ Ansatz verpflichtet. Oder anders gesagt: Dem ‚cogito‘, dem ‚ich denke‘, geht ein ‚cogitor‘ voraus: ‚ich werde gedacht‘, durch den, den ich Schöpfer und Grund des Selbst nenne.
Aurelius Augustinus (354 n. Chr- 430 n. Chr.) kaum auf Umwegen, über die antike Rhetorik und das Einheitsdenken des Neuplatonismus, zur sein Leben verändernden christlichen Grunderfahrung. Er durchlief die verschiedenen Denkformen der Antike, u.a. die Skepsis: Auch dies macht sein Denken und Leben so differenziert und reich. So formuliert er als erster die Aussage, dass es das denkende Ich ist, das cogito, das jenseits des Zweifels und des Bezweifelbaren steht: Ein Gedanke, den René Descartes (1596-1650) im 16. Jahrhundert zu großer Wirkung bringen und damit zum „Vater der neuzeitlichen Philosophie“ werden wird.
Hegel zufolge führt die Philosophie der Antike zur Verfestigung und Ausbildung der Begriffe. In der Moderne müssen diese selben Begriffe verflüssigt und in Bewegung versetzt werden. So ist die Antike unser „nächstes Fremdes“. Ohne sie wäre das Mittelalter, wären aber auch die vielfachen Denkwege der Neuzeit bis heute nicht möglich gewesen. Alles geschichtliche Denken konfrontiert uns „mit den Alten“. Auch wenn wir sie vielleicht irgendwo übertreffen, aber niemals erreichen werden.
Für „den Philosophen“ war der Zusammenhang von Stadt und Seele noch untrennbar. Ein gelingendes Leben als Mensch konnte man nur in der Rolle des freien Bürgers haben. Das ändert sich in den spätantiken Großreichen. Kosmos und Privatleben werden die möglichen Glücksorte. Die Stoiker wollen in der Welt so zuhause sein, wie im eigenen Leib. Die Epikureer erträumen sich eine Welt als Garten. Ist Glück zugleich Erlösung, kann dieses Glück in der Welt gewonnen werden? Brennende und bis heute brisante Fragen.
Wenn für Platon die Polis auf der Aristokratie beruhte, so ist es für Aristoteles die Gemeinschaft der Bürger, die in Streit und Konsens das „mögliche Beste“ erfasst. Aristoteles wird in seiner praktischen Philosophie zum ersten entschiedenen Exponenten des Republikprinzips. Die republikanische Polis ist immer eine Rechtsgemeinschaft der Verschiedenen. Regieren und Regiertwerden bedingen und erfordern einander wechselseitig.
Dem Wissen um zu wissen, setzte Aristoteles das Wissen, um zu handeln an die Seite. Es ist Sache der Ethik und in der Rahmung Politik. Hier entwickelte er die bleibenden Maßstäbe von Mitte und Maß, die sich allerdings nicht arithmetisch-mathematisch definieren lassen, sondern Erfahrung und Einsicht erfordern: Phronesis und ein Ethos wie in der sicheren Übung. Noch immer unerlässliche Maßgaben, um das Glück nicht mit Sicherheit zu verfehlen. Denn seine Bedingung ist der Bios, die Lebensform, nicht nur die augenblickliche Lust (hedone).
Die Grenzen der Erfahrung erfahren Die ‚Erste Philosophie‘ oder Erste Wissenschaft fragt nach den Gründen, nach den allgemeinen Strukturen des Seins und zuletzt nach dem höchsten Seienden Gott. Sie fragt aus theoretischem Interesse nach dem, was das Innere der Welt zusammenhält. Metaphysik und Theologie sind daher bei Aristoteles eng ineinander verzahnt. Die metaphysischen Fragen sind – vielleicht, wie immerhin Kant meinte-, notwendige Fragen des endlichen Menschen. Ein „nachmetaphysisches Denken“ (Habermas) kann es daher nicht geben. Wohl aber ist „Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ (Adorno) für ein humanes menschliches Leben unerlässlich.
Platons Schüler Aristoteles (385-423 v. Chr.) prägte die Architektur der Philosophie als des disziplinierten Denkens, wie sie bis heute besteht: Logik, Theoretische Philosophie (Physik, Metaphysik), Praktische Philosophie: Das Wissen, um zu handeln (Ethik, Politik, Ökonomie), Poietische Philosophie: Die Prägungen der Kultur. Deshalb erhielt er im Mittelalter den Ehrentitel: „Der Philosoph“. Platon galt eher als Mystiker und „Theologe“. Oder wie Günter Patzig einmal prägnant sagte: Platon ist der Größte und Aristoteles der Beste.
Platons Denken hat wahrhaft Schule gemacht. Die großen (Neu-)Platoniker bringen die Labyrinthe seiner Dialoge in einer systematische Gestalt: Einheit-Vielheit, Ewiges- Zeitliches werden unterschieden und sie haben aneinander teil. Am Anfang steht das unerreichbare, ewige Eine. Die Seele aber vermittelt zwischen Göttlichem und Endlichem. Die großen Summen von Plotin, Proklos und vielen anderen: dieses „Denken des Einen“ (W. Beierwaltes), wird zum Begriffsmuster, in dessen Begriffe die christliche Offenbarungswahrheit zu fassen ist.
Dass wir erkennen können, hängt von der Beziehung von Wahrnehmung und Erfahrung auf Kategorien ab. Nicht nur Erfahrungen müssen sich verbinden, sondern die Überbegriffe und Leitlinien, nach denen wir sie ordnen. Was sich auf dieser Ebene verbindet und was nicht (Werden-Vergehen; Sein-Nichts; Bewegung-Ruhe), das hat Platon in seinen großen Spätdialogen vor allem im ‚Sophistes‘ und im ‚Politikos‘ untersucht. Damit hat er eine Kernmethode der Philosophie entwickelt: die Dialektik In engstem Zusammenhang damit steht die Unterscheidung von Wahrheit und Täuschung.
Philosophische Alterswerke sind mitunter von besonderer Prägnanz. Das Labyrinth lichtet sich. Sie holen ein, was bislang zweitrangig schien. Bei Platon ist dies die Frage nach dem Vergänglichen, nach Werden und Vergehen und nach der Natur. So entwickelt er (im ‚Philebos‘) die Frage nach dem aus Bedürfnis und Einsicht gemischten menschlichen Leben und (im ‚Timaios‘) den wahrscheinlichen Mythos der Entstehung der Welt, die eine Mischung ist aus Schönheit und Vergänglichkeit; Urbild der großen Kunst, Abbild des Kosmos.
Nach der in den Himmel geworfenen idealen Polis in Platons ‚Politeia‘, wendet er sich ein zweites Mal der Frage der Gesetzgebung zu. Diesmal konkreter, auf Kompromiss und menschliche Bedürfnisse bezogen. Nicht die „Idee des Guten“ ist hier der Maßstab, sondern das „mögliche Beste.“ Das kommt den heutigen vielfachen Bedingungen des Politischen näher und ist teils hoch aktuell. Denn kein Gesetz ist Herr über die eigene Auslegung. Freilich: Aufs Urbild sollte man zuerst blicken, nicht aufs Abbild. Oder: Der Kompromiss muss schmerzen.
Was ist Gerechtigkeit? Und wie zeigt sie sich in der kleinen Schrift der Seele und in der großen Schrift, der Polis im Zusammenleben der Menschen? Diese Fragen bewegt Platon in seinem Hauptwerk ‚Politeia‘, in dem die verschiedenen Fäden zusammenlaufen. Das ist weit mehr als eine Utopie: Es ist der atopische Entwurf eines Lebens und Denkens gemäß der Idee des Guten: fremd und faszinierend zugleich.
Philosophieren war von Anfang an nicht eine freischwebende Kunst um der Kunst willen. Das Denken versucht Licht ins Dunkel des gelebten Lebens zu bringen: Die großen Mächte des Daseins, Eros und Tod wollen verstanden werden. Platon fragt deshalb nach der Unsterblichkeit der Seele (Phaidon) und der Macht des Eros (Symposion): Sie kann zu höchster Klarheit führen und sie kann in den Abgrund reißen.
Sokrates fragt nach dem Wesen der Dinge. Was ist etwas? Die Leuchtkraft der Wahrheit unterscheidet sich vom Talmi des Scheins. So wird er zum Anti-Sophisten. Sokrates hat keine schriftliche Zeile hinterlassen. In Platons Werk lebt sein Denken. In den frühen Sokrates-Dialogen will er wissen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten und wie man leben soll. Sie bohren so tief bis sie an unlösbare Fragen stoßen. Dabei versteht er Philosophieren als eine Art rationalen Gottesdienst.
Sophisten waren Virtuosen des Argumentierens und zugleich des Verdrehens. Sie erschütterten die antike Götterfurcht und erklärten den Menschen zum „Maß aller Dinge“ (Protagoras). Weniger um Wahrheit als vielmehr um Meinungsmacht ging es ihnen. Aufklärer waren sie gegenüber anderen aber nicht gegenüber sich selbst. Sophistische Scheingefechte sind, wenn man genauer hinsieht, auch im heutigen Zeitgeist präsenter als man denkt.
Im fünften Jahrhundert beginnt bei den Griechen das philosophische Denken. Es fragt nach dem Logos, der Mensch und Kosmos leitet. Parmenides sieht ihn im Denken des Einen, Heraklit im Verhältnis der Gegensätze, der palintropos harmonia: Ein doppelter Anfang der abendländischen Weltphilosophie, der bis in die Gegenwart nachwirkt
Menschliche Sinnorientierung fragt gerade unter den hochtechnologischen und komplexen Voraussetzungen der Gegenwart tiefer: Sie richtet sich auf das unterscheidend Menschliche. Dies ist die Aufgabe philosophischer Bildung, die nach den Gründen und transzendenter Wahrheit fragt und verhindert, dass der Mensch zur Simulation seiner selbst wird. Grund genug, dem Gang des europäischen Denkens nachzugehen.