POPULARITY
Sie war eine talentierte Schriftstellerin und Chronistin der Weimarer Zeit. Bekannt wurde sie für ihre Gerichtsreportagen fürs Berliner Tageblatt.
Der Respekt vor dem höchsten Staatsamt des Reichspräsidenten und im Besonderen vor seinem ersten Amtsinhaber Friedrich Ebert waren zu dessen Lebzeiten bei seinen politischen Gegnern nicht immer ausgeprägt; zahllose, auch ehrabschneidende Anfeindungen von den Extremen des politischen Spektrums hatte Ebert in den Jahren seiner Amtszeit erfahren. Immerhin, entnehmen wir der Presseschau der Hamburger Nachrichten vom 1. März 1925, waren in jenen mittleren Jahren der Weimarer Republik zumindest im Angesicht des plötzlichen Todes des Präsidenten indes auch die Vertreter der rechten Blätter des Reiches noch in der Lage, sich über den verstorbenen Sozialdemokraten ein paar würdigende Worte abzuringen – zumeist für seine antibolschewistische Gesinnung. Das weite politische Spektrum von der völkischen Kreuzzeitung bis zum sozialdemokratischen Vorwärts wird für uns lesend abgeschritten von Rosa Leu.
Vossische Zeitung, Berliner Lokal-Anzeiger, Berliner Börsen-Courier – langjährigen Hörerinnen und Hörern dieses Podcast dürften diese Namen noch sehr geläufig sein. Dass sie es heute gleich in Mannschaftsstärke in das Programm von Auf den Tag genau geschafft haben, läutet keine Rückkehr nach Berlin ein, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass man in Hamburg zwar seine eigenen Zeitungen las, diese in begründeten Fällen aber durchaus ein Auge darauf warfen, wie die Hauptstadtpresse bestimmte Entwicklungen kommentierte. Konkreter Anlass für die Presseschau im Hamburgischen Correspondenten vom 18. August 1924 waren die Resultate einer Londoner Konferenz, die sich mal wieder um Einigkeit in Kriegsreparationsfragen bemühte. Dass die regierungsnahen Organe wie der sozialdemokratische Vorwärts, die Zentrums-Parteizeitung Germania oder das liberale Berliner Tageblatt das deutsche Verhandlungsergebnis positiver bewerteten als die Blätter des nationalkonservativen bis völkischen Lagers, vermag wenig zu überraschen. Es liest Frank Riede.
Thu, 29 Feb 2024 03:00:00 +0000 https://geschichteeuropas.podigee.io/b297-297 e77a5ce951d1b3c7d1f573e9ffa40fc3 Z: Meta/ Podcast Verknüpfte Folgen Was heißen und zu welchem Ende produzieren wir Geschichtspodcasts? (31.12.2021) Berliner Börsen-Courier, "Die Rutenbündler" (1922), feat. Auf den Tag genau (27.10.2022) Berliner Tageblatt, "Der Bruch" (1923), feat. Auf den Tag genau (02.01.2023) Paul Scheffer, "Ruhr und Reich" (1923), feat. Auf den Tag genau (14.04.2023) Den Podcast unterstützen UNTERSTÜTZE DEN PODCAST BEI STEADY! Marlon unterstützt den Podcast seit März 2023 mit einem Betrag, der den monatlichen Hosting-Kosten entspricht. Dafür möchte ich ihm hier ganz besonders danken! EINZELSPENDE ÜBER PAYPAL SENDEN Feedback und Kommentare! Podcast-Blog mit Kommentarfunktion #historytelling - Netzwerk unabhängiger Geschichtspodcasts Schick mir Kommentare und Feedback als Email! Der Podcast bei Fyyd Folge mir bei Mastodon! Frag mich nach deiner persönlichen Einladung ins schwarze0-Discord! Die Episoden werden thematisch und nicht nach Erscheinungsdatum nummeriert. Für einen chronologischen Durchgang zur europäischen Geschichte sollten die Episoden nach Namen sortiert werden. schwarze0fm hatte als Hobbyprojekt begonnen - inzwischen habe ich aber durch Auftragsproduktionen und Crowdfunding die Möglichkeit gewonnen, mehr und bessere Folgen für Geschichte Europas zu produzieren. Das Prinzip "schwarze Null" bleibt - die Einnahmen werden verwendet, für mich Rahmenbedingungen zu schaffen, den Podcast zu betreiben und weiterzuentwickeln. In dieser Folge habe ich das ausführlich erklärt. This episode of "Geschichte Europas" by schwarze0fm (Tobias Jakobi) first published 2024-02-29. CC-BY 4.0: You are free to share and adapt this work even for commercial use as long as you attribute the original creator and indicate changes to the original. 297 bonus Z: Meta/ Podcast no Auf den Tag genau,Podcast Tobias Jakobi
Die berühmte Puppenmacherin Käthe Kruse – das ist heute weithin gar nicht mehr bekannt – war ursprünglich Schauspielerin, die in jungen Jahren u.a. am Berliner Lessingtheater engagiert war. Ihre charakteristischen, weil so lebensechten, heute teilweise zu horrenden Sammlerpreisen gehandelten Puppen begann sie ursprünglich nebenbei für ihre eigenen Kinder zu bauen. Eher zufällig kam es 1910 zu einer Ausstellung im Warenhaus Tietz, die ein solcher Erfolg war, dass die Kruse daraufhin eine eigene Werkstatt in Bad Kösen an der Saale bezog und dort begann, ihre Puppen zu kommerziellen Zwecken in Handarbeit herzustellen. In ihrem „Brief an eine ausländische Freundin“ aus dem Berliner Tageblatt vom 21. Februar 1924 erfahren wir nicht nur, was für Käthe Kruse eine kindgerechte Puppe ausmachte. Sie schildert uns dort auch Eindrücke von einer Reise in verschiedene europäische Länder, die sie kurz zuvor, offenbar erstmals seit dem Weltkrieg wieder, unternommen hatte. Es liest Paula Rosa Leu.
Nicht zum ersten Mal in diesem Podcast berichtet im Berliner Tageblatt vom 20. Februar 1924 Dr. Mamlock über Neuerungen auf dem Gebiete der Medizin. Wie lässt sich der Funk für den Rettungsdienst nutzen? Es geht in dem Artikel nicht nur um die Möglichkeiten, schnell die Rettungskräfte, etwa im Gebirge, dorthin zu führen, wo sich Verletzte befinden, es geht auch darum, die Herztöne über große Distanzen hinweg hörbar zu machen. Was neben dieser Ferndiagnostik noch die Technik der drahtlosen Telefonie bieten könnte, teilt uns, vielleicht auch ganz drahtlos, Frank Riede mit.
Auch vor einhundert Jahren und damit einhundert Jahre nach Goethe blieb den meisten Menschen in den hiesigen nördlichen Breiten nichts anderes übrig, als das Land der Griechen, wenn überhaupt, mit der Seele zu suchen. Zu den wenigen Privilegierten, die seinerzeit auch physisch eine Reise an die sogenannte Wiege unserer Zivilisation realisieren konnten, zählte der hier bei Auf den Tag genau sehr geschätzte Publizist Victor Auburtin, der im Frühjahr 1924 gleich mehrere Monate in ägäischen Gefilden weilte und von dort von Zeit zu Zeit mit launigen Artikeln im Berliner Tageblatt grüßte, mit denen er seinen Aufenthalt vermutlich teilfinanzierte. Sein Bericht aus Athen vom 16. Februar streift dabei nur sehr kurz zum touristischen Höhepunkt auf die Akropolis, um sich stattdessen ausgiebig im zeitgenössischen Athener Leben – auf dem Markt, an der Börse, im Kafénion – umzutun. Ein Bordellbesuch, mit dem der Text final kokettiert, bleibt uns hingegen erspart. Unser Griechenland-Korrespondent heißt Frank Riede.
Dafür dass er mit seinen weit über zweihundert Millionen Einwohnern auch schon vor einhundert Jahren zu den größten Ländern der Erde zählte, kam der nach wie vor unter britischer Kolonialherrschaft stehende Subkontinent Indien in der Berliner Presse äußerst selten vor. Und wenn, mag man hinzufügen, waren die Meldungen kaum je vor Ort recherchiert. Das gilt auch für den Text des geschätzten Arnold Höllriegel, der im Berliner Tageblatt vom 29. Januar 1924 bezeichnenderweise von Wien aus über Indien berichtete. Nicht nur wimmelt es im Artikel von problematischen Termini für die unterschiedlichen hier betrachteten Bevölkerungsgruppen. Auch im Ton ist die Darstellung durchaus nicht frei von europäischer Herablassung, auch wenn die Sympathie des Autors letztlich wohl nicht den englischen Kolonialherren gehört. Um zu dokumentieren, welches Bild man sich seinerzeit hierzulande von Indien machen konnte, haben wir uns dennoch für eine Produktion des Textes entschieden und ihn zur Lektüre an Frank Riede übergeben.
Die Planstadt Brasilia zählt zu den jüngsten Hauptstädten der Welt und gilt wegen ihrer maßgeblich von Oscar Niemeyer entworfenen öffentlichen Gebäude heute als Ikone der architektonischen Moderne. Hierzulande kaum bekannt, reicht ihre Geschichte respektive der in der brasilianischen Verfassung festgeschriebene Beschluss, eine neue, zentral gelegene Kapitale im Landesinneren zu errichten, indes bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Die Grundsteinlegung erfolgte bereits im Jahr 1922. Grund genug für das Berliner Tageblatt, seine Leserinnen und Leser am 11. Januar 1924 mit diesen Plänen vertraut zu machen und zu rekapitulieren, warum die bereits im 18. Jahrhundert von Salvador da Bahia nach Rio de Janeiro verlegte Hauptstadtfunktion abermals weiterwandern sollte. Neben ökonomischen und politischen werden dafür interessanterweise auch militärische Argumente ins Feld geführt, die für uns Paula Rosa Leu erläutert.
Unter dem Titel „Das geistige Ausland und das geistige Deutschland“ versammelte das Berliner Tageblatt die Antworten europäischer Literat*innen zum Thema einer „Europäischen Schicksalsgemeinschaft“, die sie bei ihnen angefragt hatte. Im Zentrum dieser Kampagne stand die Äußerung zu dem Thema von Thomas Mann, die für uns heute Frank Riede vorträgt. Unter anderem setzten Romain Rolland, G.B. Shaw, Knut Hamsun, Edvard Munch, Hugo von Hofmannsthal und Selma Lagerlöf ihre Unterschrift unter den Text, verbunden mit verschieden langen Anmerkungen und Kommentaren. Obgleich der Artikel pro-europäisch ist, so irritiert er zugleich durch ein heute befremdliches Pathos und scheint eher im Ersten Weltkrieg als in der Nachkriegszeit verwurzelt zu sein. Die ganze Seite, die das Berliner Tageblatt dieser Aktion widmete, stammt aus der Ausgabe vom 25. Dezember, die beide Feiertage abdeckte, so dass wir ihn heute, am Zweiten Weihnachtsfeiertag bringen, zu dem wir alles Beste wünschen.
In Zeiten wie den unseren, die eine gewisse Neigung zum Kulturkampf haben, geraten gerne einmal auch eher gemütliche Gestalten wie zum Beispiel Weihnachtsbäume zwischen die Fronten. Eine einzelne Hamburger Kita beschließt, einen solchen in diesem Jahr nicht aufzustellen, und begründet dies mit religiöser Neutralität, und schon beschwören etliche Zeitungen und Magazine und ein einzelner deutscher Ministerpräsident den Untergang des Abendlandes. Grund genug, uns des guten Stücks Weihnachtsfolklore einmal sachlicher anzunehmen, dessen Traditionen zu ergründen und – wenig überraschend – herauszufinden, dass es sich bei der guten Tanne natürlich um alles andere als ein christliches Ursymbol handelt. Mit von der Partie bei dieser interessanterweise in Italien startenden Recherche sind das Berliner Tageblatt vom 19. Dezember 1923, dessen Preis mittlerweile bei 250 Milliarden Mark alias 25 Goldpfennigen eingefroren war – und Paula Rosa Leu.
Großstadtfeuilleton ist, wenn eine Wiener Legende und ein Münchener Original in einer Berliner Tageszeitung aufeinander treffen. So geschehen wahrscheinlich öfter in den 1920er Jahren, aber konkret sei heute hier die Rede von Alfred Polgar, der im Berliner Tageblatt vom 14. Dezember 1923 der spezifischen Komik des großen Karl Valentin auf den Grund zu gehen versucht. „Er ist ein Phänomen und spottet der Analyse“, schließt sein Text voll Bewunderung und Bescheidenheit. In den vorangegangenen zwei kleinen Spalten kommt der Literat Polgar dem Phänomen Valentin aber vermutlich näher als die meisten anderen Exegeten. Kostenpunkt der veröffentlichenden Abendausgabe übrigens: 100 Milliarden Mark. Oder wie man neuerdings rechnete: 10 Goldpfennig. Unser Mann bei diesem Gipfeltreffen ist Frank Riede.
Marie-Elisabeth Lüders, in der Weimarer Republik mehrmals Reichstagsabgeordnete für die DDP und zwischen 1953 und 61 Bundestagsmitglied für die FDP, war eine sehr couragierte Frau. Trotz mehrmonatiger Gestapo-Haft blieb sie auch nach ihrer Freilassung 1937 ganz bewusst in Deutschland und engagierte sich unter anderem bei den Quäkern für verfolgte Juden, von denen sie einige zwischenzeitlich auch bei sich zu Hause aufnahm. Die Gefahren des Antisemitismus hatte sie bereits viel früher erkannt und vor seinen Folgen gewarnt. Ihr diesbezüglicher Beitrag über die Feigheit und Dummheit der Judenhetze aus dem Berliner Tageblatt vom 12. Dezember 1923 ist von großer Klarheit und, wie wir heute wissen, leider auch Weitsicht. Gelesen wird er für uns aus historischem, aber leider auch aktuellem Anlass von Paula Rosa Leu.
Aberwitzige 200 Milliarden Mark kostete ein Berliner Tageblatt am 23. November 1923 in der Morgenausgabe, aber dafür konnte man mit diesem immerhin noch in Weltgegenden reisen, die für die gemeine Berliner Leserin und den gemeinen Berliner Leser ohne Valuta ansonsten völlig unbezahlbar und unerreichbar geworden waren. Zum Beispiel nach Norwegen, wohin es uns im Podcast in den zurückliegenden vier Jahren bereits zwei Mal gezogen hat. Anlaufpunkt ist auch diesmal wieder die Gegend um die Hauptstadt Oslo, das man damals noch Kristiania nannte, und wie schon vor gut anderthalb Jahren geht es erneut zum legendären Holmenkollen, nur in diesem Fall ohne (die traditionell erst im März abgehaltenen) Skispiele. Vertraut ist auch der Nachname des Autors, Adolf Miethe, denn von dessen Tochter Käthe kamen hier auch schon verschiedentlich Artikel zur Anhörung. Mit den Miethes auf Nordlandfahrt gegangen ist für uns Frank Riede.
Der Spuk dauerte nur ein paar Stunden. Dann hatte die Staatsmacht in München die Ordnung wieder hergestellt, und der sogenannte Hitler-Ludendorff-Putsch war Geschichte. Die Berliner Tageszeitungen konnten sich bereits tags darauf daran machen, die Lehren aus dessen Geschichte zu ziehen. Zu den klarsten Stimmen gehörte dabei wie fast immer die von Ernst Feder, der sich in seinem Kommentar im Berliner Tageblatt nur kurz mit den Hauptdarstellern dieser – wie er es nannte – „Hanswurstiade“ aufhielt, um stattdessen eher nach denjenigen zu schauen, die er in der politischen Verantwortung dafür sah, dass sich die Republik fürderhin wehrhafter gegen ihre völkischen Feinde zeigen müsste. Dass man leider zu wenig auf ihn und andere hören sollte, ist bekannt – und eher nicht der Tatsache geschuldet, dass man für die Zeitung am 10. November 1923 30 Milliarden Mark entrichten musste. Es liest Frank Riede.
Zweifelsfrei war Rudolf von Laban einer der großen Tänzer und Tanztheoretiker des 20. Jahrhunderts. Mit seinem lebensreformatorischen Ansatz, wie er ihn etwa am legendären Treffpunkt von Pazifisten, Künstlern und Lebensreformern, dem „Monte Veritá“ im Tessin praktizierte, war er auf der Suche nach einem neuen Körperempfinden und einem neuen körperlichen Ausdruck im Tanz. Heute kommt er in unserem Podcast zu Wort, dank der Vossischen Zeitung vom 1. November 1923, die genau wie das Berliner Tageblatt am Tage zuvor 2,5 Milliarden Mark kostete und seine tanztheoretischen Gedanken abdruckte. Zum Glück tanzt Paula Rosa Leu den Artikel nicht vor, sondern liest ihn.
Hugo Preuß, 1860 in eine jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, wurde nach seinem Jura-Studium und seiner Habilitation als Staatsrechtler Hochschullehrer, begann aber auch eine politische Karriere als Berliner Stadtrat. 1918 war er Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei und wurde zugleich nach der Novemberrevolution mit einem Entwurf einer Reichsverfassung beauftragt – und tatsächlich stammen weite Teile der Weimarer Verfassung aus seiner Feder. Daher verwundert es nicht, dass er sich in einer Krisenzeit, die die Weimarer Republik zu zerreißen drohte, im Berliner Tageblatt vom 31. Oktober 1923 zu Wort meldete. Der ehemals erste Innenminister der Republik sieht das Land in einem inneren Zweifronten-Krieg zerrieben. Während die politische Mitte nicht genug Kraft zu haben scheint, die Republik zu verteidigen, werde sie von rechts und links angegriffen. Urteilen Sie selbst, ob uns Preuß auch für die heutige Zeit interessante Einblicke bietet. Die Ausgabe kostete 2,5 Milliarden und es liest aus ihr Frank Riede.
Folgt man einer der vielen Legenden der Zwanziger Jahre, dann ist schwer davon auszugehen, dass etliche der hier bei Auf den Tag genau zu Gehör gebrachten Texte in Caféhäusern entstanden sind. Diese Affinität würde auch erklären, warum sich die gelegentlichen Texte über Caféhäuser dann meist zu kleinen Liebeserklärungen auswachsen. Die nachfolgende Glosse von Franz Blei aus dem Berliner Tageblatt vom 18. Oktober 1923 bildet da eine signifikante Ausnahme. Obwohl der Autor aus Wien stammt, bekennt er freimütig seine Aversion gegen diese Art Etablissements und das dort gemeinhin verkehrende Personal. Wer sich an seinen paar Zeilen Grant delektieren wollte, musste dafür am Kiosk schlappe 50 Millionen Mark berappen. Oder in ein Caféhaus seines Vertrauens gehen, wo man das Berliner Tageblatt kostenlos lesen konnte. Frank Riede, sagt man, träfe man bisweilen im Galao am Weinbergsweg. Die Zeitung liest er für uns aber bei sich zu Hause ein.
Das Fürstengeschlecht Reuß mit seinem Gewirr aus jüngerer und älterer Linie, Geraer, Schleizer, Köstritzer und sonstigen Zweigen dürfte bis vor einem knappen Jahr selbst Stammlesern des Goldenen Blattes kaum mehr wirklich vertraut gewesen sein – bis ein etwas ungepflegt wirkender älterer Herr, der auf den Namen Prinz Heinrich XIII. hörte, es im Dezember 2022 plötzlich auf die große Bühne der Tagesschau schaffte, weil er als mutmaßlicher Kopf einer rechtsterroristischen Vereinigung festgenommen wurde. Die Medienpräsenz seines Großvaters bzw. des Adoptivvaters seines leiblichen Vaters, den die reichlich sonderbare Reuß'sche Familienzählung als Heinrich XLV. ausweist, war da von etwas vornehmerer Art. Am 5. Oktober 1923 widmete er im renommierten Berliner Tageblatt einem Gedichtband von Else Lasker-Schüler eine knappe, aber von Sympathie für die Autorin zeugende Besprechung. Seine allgemein musische Neigung, die sich auch in seinem lebhaften Engagement für das Reuß'sche Theater in Gera äußerte, hinderte auch Heinrich XLV. freilich nicht daran, später ein linientreuer Nationalsozialist zu werden. Es liest Frank Riede.
Ob mit seinen ortskundigen Reiseberichten aus Palästina, launigen Feuilletons aus dem Wiener Zoo oder bissigen Satiren über das faschistische Italien – Arnold Höllriegel ist ein so regelmäßiger wie gern gesehener Gast in unserem kleinen Podcast. Am 19. September 1923 hatte es ihn für das Berliner Tageblatt nach Genf verschlagen, wo er von einer durchaus dramatischen Sitzung des Völkerbundes wegen der italienischen Aggression gegen das griechische Korfu berichtet. „Dramatisch“ meint dabei zum einen den Ernst der politischen Lage. Zum anderen wird das Zusammentreffen der hohen Diplomaten dank Höllriegels feinsinniger Beobachtungsgabe aber auch zu einem spannungsvollen Bühnenspiel. An zwei Stellen enthält der Text zeittypische, heute aber als anstößig empfundene ethnophaulistische Formulierungen. Wir entnehmen ihn der allmittwöchlich erscheinenden Auslandsausgabe des Berliner Tageblatts, deren Preis von der galoppierenden Inflation in Deutschland mithin entkoppelt war. Er belief sich in der Tschechoslowakei beispielsweise auf 80 Kronen, in der Türkei auf 4 Pfund und in Uruguay auf 6 Peso oro. Es liest Frank Riede.
First Vienna, Wiener Sportclub, Admira, Wacker, Austria, Rapid, ... – Wien hat fraglos viele lässige Fußballclubs mit fast immer bewegter Geschichte. Am allerbewegendsten ist vielleicht die vom SC Hakoah, dem jüdischen Verein aus dem zweiten Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt, der nicht nur 1925 erster österreichischer Profi-Fußballmeister wurde, sondern es bereits zwei Jahre zuvor mit einem einzigen Freundschaftsspiel zu internationaler Berühmtheit geschafft hatte: Gegner West Ham United spielte seinerzeit zwar nur in der zweiten englischen Liga. Der Sieg Hakoahs im Londoner Upton Park war jedoch überhaupt der allererste, der einem Team vom Kontinent gegen einen englischen Club auf der Insel gelang, und hätte insofern in jeder Höhe sporthistorische Bedeutung gehabt. Dass der Triumph der Wiener mit 5:0 gleich überaus deutlich ausfiel, machte das Ereignis freilich zu einer Sensation, von der die Tageszeitungen in ganz Europa, und auch in Berlin, ausführlich berichteten. Da das Berliner Tageblatt im Vorfeld natürlich keinen Korrespondenten entsandt hatte, druckte man hier einfach einen Artikel aus der Sportbeilage des Neuen Wiener Tagblattes nach, das die lokalen Helden in den höchsten, zum Teil etwas irritierend markig-militaristischen Tönen pries. Für uns tut dies Paula Rosa Leu.
Wie sich bisweilen doch die Schlagzeilen gleichen: „Die Sorge um die Heizung“ überschreibt das Berliner Tageblatt einen Artikel aus seiner Morgenausgabe vom 7. September 1923, für die man aufgrund der galoppierenden Inflation bereits 200.000 Mark am Kiosk aufwenden musste. Die Hintergründe der im gleichen Maße steigenden Energiekosten und der daraus resultierend befürchteten Versorgungsengpässe waren mithin zwar gänzlich anderer Art als heute in Zeiten von Klimakrise und Ukrainekrieg. Im Ergebnis stand indes gleichfalls die Notwendigkeit, den Energieverbrauch zu drosseln. Damit ‘Weniger Verheizen‘ nicht schlicht ‘Mehr Frieren‘ bedeutet, bringt der für uns von Paula Rosa Leu gelesene Text die interessante Idee einer individuellen Heizberatung durch Fachleute ins Spiel, die den Verbraucher*innen beibringen sollten, wie man mit möglichst geringem Ressourceneinsatz maximalen Effekt erzielt. Wegen Ämterüberlastung und Fachkräftemangel brauchen wir dieses Konzept wohl leider gar nicht erst zu Nachahmung vorschlagen.
Dem Berliner mag so allerlei nachgesagt werden; dass er – oder auch sie – etwas von gutem Essen und Trinken verstehe, gehört zumindest traditionell eher nicht dazu. Das wusste wohl auch das Berliner Tageblatt, dessen Abendausgabe am 30. August 1923 bereits 80.000 Mark kostete, und ließ über „Das gute Essen“ einen waschechten Wiener, nämlich Alfred Polgar, sich auslassen, wobei man durchaus streiten kann, ob dieser Titel tatsächlich den Gegenstand des nachfolgenden Textes präzise, nun ja, aufspießt. Noch mehr als um das Schnitzel auf dem Teller, das auch vorkommt, geht es Polgar um den physiologischen Vorgang des Speisen Inkorporierens und seine unmittelbaren Folgen für Seele und Zunge sowie um verschiedene Typen des Essers. Frank Riede hat sich Polgars delikate kleine Studie für uns schmecken lassen.
1923 sind die Tageszeitungen unbestritten das Leitmedium. Das Radio erreicht noch nicht die Massen, macht sich aber bereit für seinen baldigen Siegeszug. Doch auch am Fernseher wird bereits getüftelt, wie unser heutiger Artikel aus dem Berliner Tageblatt vom 21. August belegt. Für schlappe 80.000 Mark konnte man diese Ausgabe erwerben und dort von Artur Fürst Details über den aktuellsten Stand der Bewegtbildübertragung erfahren. Der Autor und Schriftsteller war ein sehr erfolgreicher Technik-Erklärer der Weimarer Republik. Sein „Weltreich der Technik“ in vier Bänden war ein Klassiker des populärwissenschaftlichen Sachbuchs. Obgleich er 1926 überraschend im Alter von 47 Jahren verstarb, fiel doch auch er den Nationalsozialisten zum Opfer – insofern, als seine Bücher, wegen seiner jüdischen Herkunft, aus dem Verkehr gezogen wurden, so dass sein Werk in Vergessenheit geriet. Frank Riede liest für uns nun wie viele Pixel damals schon übertragen wurden.
Anfang der 1920er Jahre stand der literarische Expressionismus noch immer in voller Blüte, und Kurt Pinthus, Herausgeber der berühmten Anthologie Menschheitsdämmerung erinnerte sich später rückblickend in einem berühmten Bonmot sehnsüchtig an jene Zeit, in der „viel gebechert, gewerfelt und gezecht worden“ sei. Während uns Johannes R. Becher, nicht zuletzt durch seine spätere politische Tätigkeit als Kulturfunktionär in der jungen DDR, und Franz Werfel wegen einiger sehr populär gebliebener Romane noch immer sehr geläufig sind, ist der große Lyriker und produktive Dramatiker Paul Zech ein wenig in Vergessenheit geraten. 1933 ins südamerikanische Exil geflohen und dort 1946 in Buenos Aires verstorben, ist er wie so viele Exilautoren nie wirklich wieder entdeckt worden. Dass das durchaus lohnen würde, belegt ein kleiner Prosatext aus dem Berliner Tageblatt vom 19. August 1923, für uns gelesen von Frank Riede.
Viele Jahrhunderte lang war Palästina, nun ja, der Herrgottswinkel des Osmanischen Reiches, außer von durchziehenden Beduinen und ein paar Gläubigen der verschiedenen monotheistischen Weltreligionen, die es nach Jerusalem zog, von der Weltgeschichte weitgehend unbeachtet. Dies hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts geändert. Nicht nur war Palästina nach dem für die Türkei verlorenen Ersten Weltkrieg als sogenanntes „Mandatsgebiet“ an Großbritannien gefallen; seit dem Aufkommen der zionistischen Bewegung zog es zudem Juden aus den verschiedenen Ecken Europas in das ‘Heilige Land‘, die sich dort zunächst in kleinen Einheiten, vor allem den berühmten Kibbuzim, ansiedelten und mit ihrem Pioniergeist das Land spürbar veränderten. Das zumindest beobachtet der Wiener Publizist Arnold Höllriegel, der das Land 1923 bereits zum zweiten Mal bereiste und gegenüber seinem ersten Besuch neun Jahr zuvor kaum wiedererkannte. Seinen Bericht über das Kalifornien am Mittelmeer aus dem Berliner Tageblatt vom 17. August liest für uns Frank Riede.
Ach ja, die Briten und ihr Humor – was haben wir dem nicht alles zu verdanken! Sir John Falstaff und Monty Python's Flying Circus. Prinz George mit seinen Fratzen und Boris Johnson mit seinen Faxen. Und auch ein veritables Staatsbegräbnis für Holzwürmer, von dem uns dankenswerterweise das Berliner Tageblatt vom 2. August 1923 in Kenntnis setzt. Dieses fand, wie im Vereinigten Königreich zu erwarten, natürlich nicht irgendwo statt, sondern in den heiligen Mauern von Westminster Hall, wo die Verstorbenen, genauer gesagt: die Gerichteten auch zuvor schon gelebt hatten. Aus dem royalen London berichtet für uns Paula Rosa Seelmann-Eggebert.
Die Nachricht elektrisierte vor einigen Wochen die europäische Öffentlichkeit: In Nordschweden ist man in großen Mengen auf sogenannte seltene Erden gestoßen, deren Fund die Hoffnung auf baldige Unabhängigkeit von chinesischen Beständen bei dieser industriell wertvollen Ressource weckt. Dass die Gegend um Kiruna ein wichtiges Rohstofflager birgt, ist indes alles andere als eine neue Entdeckung. Bereits seit Jahrhunderten fördert man dort in Riesenumfang Eisenerze und versorgte damit phasenweise die halbe Welt. Mit der Zusicherung, Deutschland damit exklusiv zu beliefern, vermochten die Schweden während des Zweiten Weltkriegs sogar einem Einmarsch der Wehrmacht vorzubeugen. Von dieser düsteren Zeit weiß der Reisebericht aus dem Berliner Tageblatt vom 31. Juli 1923 naturgemäß noch nichts, als es zu seiner „Erzfahrt“ über die Ostsee nach Luleå kurz vor dem Polarkreis aufbricht. Durch die Schären ins Reich der Mitternachtssonne mitgereist ist für uns Paula Rosa Leu.
Oops, we did it again. Schon zum wiederholten Male haben wir einen Text von Gabriele Tergit aus den Untiefen der Archive gezogen, der in den einschlägigen Sammelbänden ihrer journalistischen Arbeiten noch nicht enthalten, also weithin unbekannt ist. Bei ihrem „Printator“ aus dem Berliner Tageblatt vom 29. Juli 1923 handelt es sich um eine echte Miniatur, nur wenige Zeilen stark, und er widmet sich dem gleichnamigen Patent eines Notizlöschblocks, auch Zaubertafel oder Wunderblock genannt, bei dem ein Schreibgriffel das Deckblatt auf eine darunter liegende Wachstafel drückt – und sich das Geschriebene anschließend durch einen mechanischen Vorgang, der die Folie wieder von der Wachsschicht abhebt, umgehend wie von Zauberhand wieder löschen lässt. Wie viele Texte Gabriele Tergit auf Printator geschrieben und später wieder zum Verschwinden gebracht hat, wissen wir nicht. Alles was sie auf geduldiges Papier gebracht hat, versprochen, werden wir jedoch finden und Euch exklusiv hier bei Auf den Tag genau präsentieren – wie heute den „Printator“ durch Paula Rosa Leu.
Das amerikanisch-chinesische Verhältnis, zur Zeit bekanntlich in aller Munde, war dem Berliner Tageblatt auch schon am 10. Juli 1923 einen eigenen Artikel wert. Der weltpolitische Kontext war seinerzeit natürlich noch ein ganz anderer. Der Weltmächte gab es mehr als heute, und wahrscheinlich hätte man China damals nicht einmal dazu gezählt. Vielmehr verband die Vereinigten Staaten und das ‘Reich der Mitte‘ neben der Größe ihrer Staatsgebilde und dem daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Potential ihr Gegensatz gegenüber den großen europäischen Kolonialmächten, wie auch gegenüber der sich zunehmend imperial gerierenden pazifischen Macht Japan, der sie – so entnehmen wir dem Artikel – in gewisser Weise zu natürlichen Bundesgenossen machte. Frank Riede weiß für uns aber auch bereits über Risse in diesem Bündnis zu berichten.
Unter der Sammelbegriff Kabarett, der heutzutage sehr stark auf das politische Kabarett zugespitzt ist, verbarg sich vor hundert Jahren ein bunter Strauß unterschiedlichster Kleinkunst auf eher kleinen Bühnen. Und so waren manche Szenen berühmt für ihre Freizügigkeit, manche für die Chansons, manche für die Artisten, manche für die Tanznummern, manche für einen legendären Conférencier und andere für all das zusammen. Auf einen Streifzug durch verschiedene Kabarett-Bühnen Berlins begab sich ein gewisser Erich Wulf und veröffentlichte seine Eindrücke in der Ausgabe vom 7. Juli 1923 im Berliner Tageblatt. Frank Riede war beim Bühnen-Hopping dabei.
Die 1872 in Berlin geborene und in einem großbürgerlichen Milieu in der Nähe des Anhalter Bahnhofs aufwachsende Alice Salomon litt darunter, dass für sie, neben dem Erlernen der praktischen Haushaltsführung, keine weitere Bildung vorgesehen war. Über die Mitarbeit in Frauenvereinen kämpfte sie als junge Erwachsene und ihr Lebe lang für Frauenbildung aller und erreichte für sich, dass sie, obwohl ohne Abitur, studieren durfte. In ihrer Dissertation untersuchte sie dann „Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit“. Ob sie für den Artikel aus dem Berliner Tageblatt vom 13. Juni 1923 weniger asugezahlt bekam als ihre männlichen Kollegen, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls betätigt sie sich darin als Auslandsreporterin und teilt ihre Eindrücke aus Amerika mit, die teilweise zeigen, wo die Wurzeln unseres heutigen Amerikabildes liegen, teilweise aber auch überraschende Beobachtungen enthalten. Es liest Paula Rosa Leu.
Die jung verstorbene preußische Königin Luise, gebürtig aus dem Hause Mecklenburg-Strelitz, Ehefrau von Friedrich Wilhelm III. und als solche u.a. Mutter des späteren Kaisers Wilhelms I., wurde bereits zu Lebzeiten auf in der preußischen Geschichte einzigartige Weise verehrt und nach ihrem Tod geradezu mythisch verklärt. Anno 1923 lag ihr Ableben schon weit mehr als ein Jahrhundert zurück, dennoch wirkt der sogenannte ‘Luisenkult‘ auch noch in dem kleinen, leicht-frühsommerlichen Text nach, den Marie von Bunsen für das Berliner Tageblatt vom 31. Mai auf einem Ausflug nach Schloss Paretz verfasst hat. Eher als schlichtes Landhaus denn als prunkvolle Residenz von Friedrich Wilhelm in Auftrag gegeben, wurde dieses von ihm nach dem Tod Luises 1810 kaum mehr aufgesucht und von seinen Nachkommen in Angedenken an die Eltern in keiner Weise verändert, so dass der Trip ins beschauliche Havelland, vor einhundert Jahren wie heute, in mancherlei Hinsicht eine Zeitreise darstellte. Angetreten wird sie für uns von Paula Rosa Leu.
In Zeiten, da die zivile Luftfahrt eher noch ein Pionierprojekt darstellte, war die Schifffahrt die einzige Möglichkeit, auch in die entlegensten Weltgegenden zu reisen. Zu den deutschen Passagierschiffen, denen diesbezüglich keine geographischen Grenzen gesetzt waren, zählte, wie wir im Berliner Tageblatt vom 23. Mai 1923 erfahren, die 1914 in Hamburg vom Stapel gelaufene Cap Polonio. Das zurückliegende Winterhalbjahr hatte sie an der Südspitze Südamerikas verbracht und mehrfach eine Passage von Buenos Aires über Kap Hoorn auf die chilenische Pazifikseite bedient. Jetzt war sie wieder zurück in Hamburg und mit ihr der Reisebericht von Elise von Hopffgarten. Die Cap Polonio befuhr übrigens nur bis 1935 die Weltmeere; dann wurde sie auf der Lloyd Werft im heutigen Bremerhaven abgewrackt. Wer ihren seinerzeit berühmten Erste-Klasse-Speisesaal heute noch sehen (und auch dort essen möchte), kann indes nordwestlich von Hamburg nach Pinneberg fahren, wohin jener einst mit 65 Wagenladungen hin verfrachtet und im „Hotel Cap Polonio“ wieder eingebaut wurde. Frank Riede hat ihn für uns noch am Originalort besichtigt.
Wer regelmäßig Auf den Tag genau hört, weiß: Reiseartikel waren in den Tageszeitungen der 1920er Jahre und sind deshalb auch hier im Podcast schwer en vogue. Ob zu Wasser, zu Lande oder in der Luft zog es die privilegierten Autorinnen und Autoren dabei genauso in ferne, dem Normalsterblichen damals weithin unzugängliche Weltgegenden, wie sie natürlich auch aus allen Ecken der deutschen Landen berichteten, wobei diese verschiedenen Ecken es, wenig überraschend, sehr unterschiedlich häufig in die Berliner Presse schafften: Das brandenburgische Umland war naturgemäß ähnlich ‘überrepräsentiert‘ wie auch die nahe Ostseeküste. Ähnlich regelmäßig stößt man auf Ausflüge ins Riesengebirge sowie vor allem in die bayerischen Alpen, und auch einige Nordseeinseln und die prominenten deutschen Kurbäder erfreuten sich anhaltender Popularität bei den Hauptstadtjournalist*innen. Ungleich weniger Beachtung erfuhr dagegen der von Berlin aus ziemlich ferne Südwesten des Landes, weshalb wir nicht widerstehen konnten, heute mit Max Krell und dem Berliner Tageblatt vom 22. Mai 1923 an den Bodensee zu reisen. Unsere Guide dabei ist Paula Rosa Leu.
Am 29. Juni 1923 verstarb der Philosoph, Schriftsteller und Publizist Fritz Mauthner im Alter von 73 Jahren. Geboren in Böhmen, wuchs er in Prag auf, wo er Rechtswissenschaften studierte, dieses Studium aber abbrach. Nach ersten Essays, sprachphilosophischen Überlegungen, Erzählungen und Theaterstücken ging er 1876 nach Berlin und arbeitete für das Berliner Tageblatt. Neben Romanen verfasste er immer wieder beißende Satiren, auch auf den journalistischen Betrieb. Den heutigen Text publizierte die Vossische Zeitung in ihrer Pfingstausgabe vom 20. Mai 1923, die auch den Pfingstmontag, der heute auf den Tag genau vor hundert Jahren war, bespielte. Er ist vom Genre schwer zu fassen, bezeichnet sich selbst als Fabel, hat jedenfalls einen gehörigen Anteil an philosophischen Überlegungen. Frank Riede liest für uns diesen Artikel, der wohl zu den letzten Publikationen von Fritz Mauthner gehört und ganz große Fragen der Menschheit anreißt.
Die fortschreitende Inflation vor einhundert Jahren machte auch vor den ehrwürdigsten Institutionen nicht halt: Für ein volles halbes Jahr musste der Zoologische Garten in Berlin im Winter 1922 schließen; man liest sogar von Schlachtungen der „ersetzbaren“ Tiere, um die „unersetzbaren“ durchzufüttern. Im Frühjahr 1923 war immerhin hier im Schatten der Gedächtniskirche das Schlimmste vorbei, und der Zoo öffnete wieder seine Pforten für die Öffentlichkeit. Georg Hirschfeld schafft es erst zu abendlicher Stunde auf einen Besuch. Obwohl er die Elefanten und die Raubtiere verpasste, weil bei diesen bereits Nachtruhe herrscht, handelte es sich, seinem Artikel aus dem Berliner Tageblatt vom 20. Mai nach zu schließen, doch um eine glückliche Rückkehr. Begleitet hat ihn für uns Paula Rosa Leu.
Zu den territorialen Verlierern nach dem Ersten Weltkrieg gehörte das Königreich Ungarn. Mit dem Vertrag von Trianon, ratifiziert am 4. Juni 1920, verlor Ungarn etwa zwei Drittel der zuvor vom Königreich Ungarn für sich beanspruchten Territorien an teilweise neu entstandene Staaten, an die Tschechoslowakei, an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenien, an Polen, an Österreich. Formal blieb es eine Monarchie, an der Spitze stand aber de facto der konservative und nationalistische Reichsverweser Miklós Horthy, der eine zumindest teilweise Revision des Vertrages anstrebte. Ein regelmäßiger Gast unseres Podcasts Victor Auburtin besuchte 1923 Budapest und notierte seine Eindrücke im Berliner Tageblatt vom 19. Mai. Frank Riede war für uns dabei.
Man kennt ihn als Namenspatron der nach ihm benannten Kunsthochschule in Kiel, als Architekt zahlreicher Bauprojekte in Berlin sowie als wichtigen Theoretiker der modernen Architektur: Hermann Muthesius war überdies auch noch Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, ein Pionier des modernen Produktdesigns, preußischer Geheimrat und einer der prononciertesten Kritiker des Jugendstils. Seine ausgeprägte Abneigung gegenüber Ornament und Zierrat und überhaupt gegenüber jedweder auf Repräsentation schielenden Baukunst klingt auch im nachfolgenden Text aus dem Berliner Tageblatt vom 10. Mai 1923 an, der „Vom Bauen nach dem Kriege“ handelt und den für uns Paula Rosa Leu liest.
Gabriele Tergit ist so etwas wie die literarische Comebackerin der letzten Jahre. Nachdem ihr Werk zwischenzeitlich quasi in Vergessenheit geraten war, ist es in jüngerer Vergangenheit fulminant in die Bestsellerlisten zurückgekehrt und mittlerweile vor allem dank der eifrigen Bemühungen des Schöffling Verlages zwischen zwei Buchdeckeln – oder als E-Book – weithin zugänglich gemacht. Das ganze Werk der Tergit? Nein, einige wenige Texte aus den frühen journalistischen Jahren harren noch immer ihrer editorischen Erweckung aus dem Archivschlaf. Sie können einstweilen nur hier bei Auf den Tag genau rezipiert werden, so auch heute die kurze Erzählung über den Frühling auf dem S-Bahn-Ring und in Berlin-Lichtenberg aus dem Berliner Tageblatt vom 6. Mai 1923. Es liest Paula Rosa Leu.
Seit es die Tagespresse gab und sie zu dem Leitmedium geworden war, aus dem die Menschen ihre Informationen über kleine und große Ereignisse daheim und auf der ganzen Welt bezogen, spielten, wenn es um letztere ging, Auslandskorrespondenten – sehr selten Auslandskorrespondentinnen – eine entscheidende Rolle. Die Berliner Hauptstadtpresse hatte ein breites Korrespondentennetzwerk, zu dem auch Paul Scheffer gehörte, der für den Mosse-Verlag und das dort erscheinende Berliner Tageblatt tätig war. Geboren 1883 in Pommern studierte er Philosophie und arbeitete während des Krieges, da er als untauglich eingestuft war, im diplomatischen Informationsdienst. Ab 1919 berichtete er für Mosse, etwa exklusiv von der Konferenz von Spa, um dann ab 1921 der Starkorrespondent des Berliner Tageblattes in Moskau zu sein, wo er die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes beobachtete und beschrieb. Unser heutiger Artikel vom 24. April 1923 zeugt davon, dass er während der Ruhrbesetzung Moskau verließ, um aus dem Ruhrgebiet zu berichten. Wer mehr zu Paul Scheffer und zu der Rolle der Auslandskorrespondenten in der Weimarer Republik erfahren will, der sollte sich unbedingt das ausführliche Gespräch von Toby, vom Podcast “Geschichte Europas”, mit der Historikerin Caroline Breitfelder anhören, das seit dem 21. April online ist. Nun aber liest Paula Rosa Leu für uns Scheffers Einschätzung zu „Ruhr und Reich“.
Berlin war in den 1920er Jahren bekanntermaßen begehrtes Zufluchtsziel vor der Revolution geflüchteter Russen, Ukrainer, Belarussen etc., und vor diesem Hintergrund nimmt es wenig Wunder, dass sich auch die führenden Theaterkünstler und -kompagnien aus dem alten Zarenreich an der Spree seinerzeit die Klinke in die Hand gaben. Über das ausgedehnte Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters haben wir zu gegebener Zeit hier im Podcast mehrfach berichtet; nun, im Frühjahr 1923, gab sich mit Alexander Tairows [Betonung auf dem i!] Moskauer Kammertheater ein ästhetisch gänzlich anders ausgerichtetes Ensemble im Deutschen Theater die Gastspielehre. Tairow zählte mit seinem um eine ‘Retheatralisierung des Theaters‘ bemühten sogenannten ‘entfesselten Theater‘ zu den großen Protagonisten der historischen Avantgarden auf der Bühne. Der Kritiker vom Berliner Tageblatt reagierte in seiner Rezension vom 11. April indes so, wie man das in Berlin bisweilen auch heute noch erlebt: Kennen wa schon, ham wa auch schon jemacht, können wa bessa! Wie das in vornehmen Worten klingt, demonstriert uns Frank Riede.
In den schwierigen Zeiten von Ruhrbesetzung, Inflation und beständigem Terror von Rechts publizierte das liberale Berliner Tageblatt eine Reihe zum Thema „Untergang oder Aufstieg“, in dem es um die Zukunftsaussichten Deutschlands ging. Seine Ansichten dazu gab auch der damals deutlich politischer agierende Bruder der Manns zu Protokoll: Heinrich Mann. Sein Essay „Ihr müsst nur wollen“ vom 3. April beschäftigt sich mit der geistigen Entwicklung Deutschland, die, seiner Meinung nach, zu sehr von wirtschaftlichen Prioritäten in Politik und Gesellschaft gehemmt wird. Eine Kritik an der auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich wie auch an der Hoffnung auf einen trickle-down-Effekt durch die Schonung von großen Vermögen, macht seinen Text teilweise verblüffend aktuell. Frank Riede weiß, was wir nach Heinrich Mann wollen müssten.
Die größte Schauspielerin Ihrer Epoche, genannt die „goldene Stimme“ und die „Göttliche“, einer der ersten Weltstars überhaupt verstarb am 26. März 1923. 1844 in Paris als Marie Henriette Rosine Bernardt geboren, gelangte sie, vermittelt vom Liebhaber ihrer Mutter, dem Halbbruder von Napoleon III., zur Ausbildung an die Comédie-Française. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang Sarah Bernhardt, wie sie sich mittlerweile nannte, 1868 der Durchbruch und eine beispiellose internationale Karriere begann, die sie ganz bewusst durch lange Gastspielreisen – wie etwa eine halbjährige Tournee durch 51 amerikanische Städte – befeuerte. Selbst als ihr wegen der Spätfolgen eines Bühnensturzes ein Bein amputiert worden war, trat sie bis ins hohe Alter auf den Bühnen der ganzen Welt auf. Nur in Deutschland gastierte sie, die sie Verletzte des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 gepflegt hatte, niemals. Ihre Beerdigung geriet zu einer Massen-Trauerkundgebung, von der für das Berliner Tageblatt am 30. März Paul Block und für uns heute Paula Rosa Leu berichtet.
Während sich in dem berühmten Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Ken Kesey und der nicht minder berühmten Verfilmung von Miloš Forman ein Kleinkrimineller in eine Psychiatrischen Klinik vor der Strafverfolgung flüchtet, indem er vorgibt psychisch krank zu sein, flüchtet der österreichische Journalist Leo Lederer ins „Irrenhaus“, um der noch verrückteren Welt da draußen zu entgehen. In der Wiener Klink Steinhof sucht er Abstand von den Nachrichten rund um die Ruhrbesetzung, Börsenspekulationen und der Inflation. Was für Erfahrungen er für das Berliner Tageblatt vom 20. März 1923 festgehalten hat, ob ihm seine Flucht ins “Irrenhaus” gelungen ist und ob die „Irren“ wirklich die „Normalen“ sind, weiß Paula Leu.
Vor fünf Tagen haben wir über die Eskalation der Gewalt im Ruhrgebiet nach dem Tod zweier französischer Offiziere berichtet. Die Berichterstattung in Frankreich und die in Deutschland zu diesen Vorfällen wichen diametral voneinander ab – natürlich unterstellte man sich gegenseitig eine propagandistische Verzerrung. Daher versuchte sich das Berliner Tageblatt am 17. März 1923 an einer Objektivierung und publizierte die Beobachtungen des schwedischen Journalisten Gösta Erlandson, die dieser im Ruhrgebiet gesammelt hatte. Frank Riede sagt uns, wie dieser die Situation vor Ort wahrgenommen hat.
Während in Berlin der Streit um eine Sperrung und Öffnung und erneute Sperrung der Friedrichstraße für den Autoverkehr für Tumulte im Berliner Senat sorgt, stritten die politischen Vertreter vor 100 Jahren über Umbenennungen von Straßennamen. Die Opfer rechter Gewalt sollten im Stadtbild sichtbar werden. Die äußerste Linke wollte Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Straßenverzeichnis, die SPD und die liberale Mitte wollten die prominenten Attentatsopfer der letzten zwei Jahre Walther Rathenau und Matthias Erzberger als Namenspatrone sehen. Offensichtlich sorgte das für große Emotionen und wechselnde Koalitionen, die einen schnell den Überblick verlieren lassen. In die turbulenten Szenen des Berliner Abgeordnetenhauses führt uns zusammen mit dem Berliner Tageblatt vom 9. März 1923 Frank Riede.
Franz Lehars Operette Das Land des Lächelns zählt bis heute zu den prominentesten Stücken dieses Genres. Der große Erfolg des bei seiner Uraufführung 1923 in Wien noch unter dem Namen Die gelbe Jacke firmierenden Opus dürfte dabei zu einem nicht unerheblichen Teil in seinem kunstvoll zelebrierten Exotismus begründet liegen, der das europäische Publikum hier in ein märchenhaft-klischeehaftes, wiewohl zeitgenössisches China entführte. Die Glosse, die Autor Arnold Höllriegel am 23. Februar 1923 im Berliner Tageblatt dazu verfasste, ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen sticht hervor, wie prägnant Höllriegel die kolonialistischen Stereotypen damals schon benannte und kritisierte, die hier ventiliert wurden. Zum anderen wird paradoxerweise aber auch deutlich, dass Höllriegel zur Beschreibung dessen keine Sprache zur Verfügung stand, die in unseren Ohren nicht ihrerseits wieder in vielen Punkten zutiefst rassistisch klingt. Es liest Frank Riede.
Die 1895 veröffentlichte und drei Jahre später uraufgeführte Tragödie „Erdgeist“ von Frank Wedekind, in der die junge Frau Lulu gleich mehrere bürgerliche Herren in den Ruin und in den Tod treibt, zeigte sich als besonders wirkmächtig und Lulu wurde zur Bezeichnung für den Frauentypus der selbstbewussten und durchsetzungsfähigen Femme fatale. Das Werk diente als Vorlage für zahlreiche Übertragungen in andere Kunstformen – so auch in den Stummfilm. Am 22. Februar feierte der Film „Erdgeist“ von Leopold Jessner mit Asta Nielsen als Lulu Premiere und brachte so den „Lulu-Typus“ erneut in die gesellschaftliche Debatte, wo ihn die Publizistin Gabriele Tergit aufgriff und darüber nachdachte, ob es diesen Typ nicht schon immer gab und ob er nun erstrebenswert sei oder nicht. Erschienen sind ihre Überlegungen im Berliner Tageblatt pünktlich zur Premiere des Stummfilms und vertont hat sie für uns Paula Leu.
Am 10. Februar 1923 verstarb in München einer der großen Revolutionäre auf dem Gebiet der Wissenschaft: Conrad Wilhelm Röntgen. 1895 war ihm die Entdeckung der „X-Strahlen“, wie er sie nannte, mit der ersten Aufnahme, die die Hand seiner Frau durchleuchtete, gelungen. Diese epochemachende Veränderung der medizinischen Diagnostik brachte ihm den ersten Nobelpreis für Physik im Jahre 1901 ein. Wir bringen in der heutigen Folge den Nachruf aus dem Berliner Tageblatt vom 12. Februar, den der Leiter der Röntgen-Abteilung des Virchow-Krankenhauses in Berlin und Pionier der Röntgenologie Max Levy-Dorn verfasste. Er verweist neben dem Beitrag zur Wissenschaft auch auf den wohltätigen Sinn Röntgens, da dieser auf eine Patentanmeldung der Röntgenstrahlen verzichtet hatte, um die Erfindung möglichst schnell den Patienten zu Gute kommen zu lassen. Die Tatsache, dass die Gefahren, die von der Strahlung ausgehen, nicht genügend bekannt waren, nahm dem Verfasser des Nachrufs wenige Jahre später das Leben. Paula Leu liest.