Die Kultur der Gegenwart ist voller Religion – ob es einem gefällt oder nicht. Das Gute daran: Es schafft Anlässe, mit ganz unterschiedlichen Menschen Gespräche zu führen. Über überraschende kulturelle Entwicklungen, tolle neue Kunstwerke oder aktuelle Konflikte. Nicht als journalistisches Frage-Antwort-Spiel, sondern als gemeinsames, ernsthaft-unterhaltsames Nachdenken. Alle zwei Wochen mit Johann Hinrich Claussen und immer einem anderen Gast.
Natürlich kann man einiges über die Lage in Israel und den palästinensischen Gebieten aus den Medien erfahren. Aber es ist doch zu wenig, zu einseitig in der einen oder anderen Richtung. Zugleich sind durch den Krieg Möglichkeiten zur Begegnung abgeschnitten. Aber wie geht es Menschen in Israel – tief verletzt durch das Terrorpogrom der Hamas, schwer verunsichert durch das Versagen von Militär und Sicherheitsorganen, in grosser Sorge um die eigene Sicherheit, viele auch zunehmend kritisch gegenüber der Kriegsführung der eigenen Regierung – was heißt das für das eigene Leben? Und wie schauen sie auf den Antisemitismus in Europa? Darüber spreche ich mit Anita Haviv, die seit 1979 in der Nähe von Tel Aviv lebt und seit vielen Jahrzehnten Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis gestaltet. Sie kennt also sehr genau die unterschiedlichsten Positionen und Perspektiven. Jetzt hat sie ein überaus lesenswertes Buch mit dem Titel „Solidarität heißt Handeln“ veröffentlicht, das in 17 Interviews mit sehr unterschiedlichen, ganz normalen Menschen zeigt, wie die israelische Zivilgesellschaft auf das Massaker vom 7. Oktober 2023 reagiert hat. Man kann es sehr günstig bei der Bundeszentrale für politische Bildung beziehen. Es öffnet den Blick für ein anderes Israel als das der Vorurteile und hält einige Inspirationen für das eigene Leben in der Schweiz oder in Deutschland bereit. Nachtrag des RefLab-Teams: In diesem Beitrag bilden wir eine engagierte und kritische Stimme aus Israel ab. Auch das Leid der Bevölkerung in Gaza geht uns nahe und wir werden versuchen, diese andere Seite des Konflikts bald mit einem weiteren Gespräch abzubilden. Hier gibt es auch eine weitere Folge vom RefLab zum Krieg in Nahost. ¨ Für reformiert. schrieb die freie Journalistin Karin A. Wenger zuletzt eine Reportage über eine drusische Familie, die in einem Dorf im Norden von Israel mit der Angst vor Raketenangriffen der Hisbollah-Miliz lebt. Ihre Kollegin Stella Männer besuchte ein christliches Dorf in Libanon, in dem die Raketen der israelischen Armee einschlagen. Hier reinhören: https://www.reflab.ch/von-den-menschen-im-krieg-erzaehlen/ Folge uns gerne auf Instagram: https://www.instagram.com/reflab.ch/
Die Klima-Krise ist nicht nur eine politische, technische und wirtschaftliche Großherausforderung, sondern auch eine psychologische. Wie gewinnen wir eine innere Haltung, mit der mir unser Leben und Handeln verändern können? Wie vermeiden wir, dass wir verhärten und gesprächsunfähig werden? Wie schützen wir uns vor Gefühlen der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit? Wie bleiben wir stabil, hoffnungsvoll und lebensfroh, obwohl wir um eine große Bedrohung wissen? Solchen Fragen widmen sich die Psychologists for Future. Eine von ihnen ist Ines Walter, Psychotherapeutin in Berlin.
Kein Mensch lebt ohne Kultur. Aber oft reden wir von «Kultur» so, als sei dies etwas für Leute, die etwas Besseres sind oder sich dafür halten. Immer noch unterscheiden wir zwischen «hoch» und «populär», «Ernst» und «Unterhaltung». Dadurch schließen wir die meisten Menschen von dem aus, was als «Kultur» gelten darf. Christian Kuhnt leitet seit vielen Jahren eines der größten Musikfestivals Europas: das Schleswig-Holstein Musikfestival. Ihm ist es persönlich und in seiner Arbeit ein Anliegen, gute Musik für möglichst viele Menschen erklingen zu lassen. Aber was ist eigentlich «gute Musik»? Nur Mozart oder auch Elton John? Welche Musik berührt und bewegt Menschen? Und wie öffnet man anderen die Ohren für Musik, die sie noch nicht kennen? Wenn Musik Menschen verbinden soll, können Rangordnungen und Abgrenzungen nur schaden. Darin liegt auch eine politische Aufgabe: Kultur kann spalten und die Gesellschaft in Höhere und Niedere einteilen; das ist ein Grund für die Erfolge des Rechtspopulismus auf dem Land und in Kleinstädten – dort fühlt man sich von den Großstädtern nicht gesehen oder verachtet; für die Zukunft der Demokratie kommt es auch darauf an, kulturelle Gräben zu überwinden. Übrigens, das sind Fragen, die auch die Kirchen und ihre Musikkulturen beschäftigen sollten.
Im vergangenen Oktober habe ich in den Berliner Sophiensälen die Performance «Faith Fiction» des Kollektivs Turbopascal miterlebt. Das war ein einmaliges Erlebnis, das mich immer noch beschäftigt. Den Glauben mitten im vermeintlich säkularen Berlin, in einer interaktiven Theaterperformance zum Thema machen – wie das gelingen kann und was dabei herauskommt, darüber spreche ich mit Angela Löhr und Frank Oberhäußer, der künstlerischen Leitung. Am Anfang der Produktion von «Faith Fiction» stand ein Text, den der Theaterkritiker und Journalist Dirk Pilz 2017 auf der Website «nachtkritik» veröffentlicht hatte. Ihn habe ich sehr geschätzt. Pilz war ein überaus kundiger Theaterfachmann und auf seine Weise ein sehr inspirierender Theologe. 2018 ist er viel zu früh verstorben. Deshalb hier einige Sätze aus einem Text, in dem er sich Gedanken über Religion und Theater gemacht hat – Gedanken, die Turbo Pascal bei der Vorbereitung ihrer Performance inspiriert haben: «Es ist ja nicht so, dass es einen Mangel an Religion auf deutschsprachigen Bühnen gäbe. Religion gehört schließlich nicht erst in der Gegenwart zu den umstrittensten und heikelsten Themen überhaupt. Aber Gläubige treten im deutschsprachigen Theater fast nur als Zerrbild auf, als Mängelwesen und bedauernswerte Tropfe, die den Anschluss an die Welt der Aufklärung und Vernunft verpasst zu haben scheinen… Religion wird durchweg zum diffusen Sammelbegriff für alles, was als irgend fremd, irrational oder überholt gilt, mitunter auch schlicht als Kennzeichen von Konservatismus. Sie wird so als das vorgeführt, was moderne, aufgeklärte Menschen nicht hätten – und auch nicht bräuchten.» Dass es genauso nicht ist, haben die Schauspielerinnen und Schauspieler von Turbo Pascal in ihren Vorarbeiten – langen Rechercheinterviews – und in ihrer Performance herausgefunden: Glaubensfragen bewegen immer noch, nur sind die Antworten inzwischen vielfältiger und vielschichtiger geworden. Wenn man sich über sie austauscht und das gängige Beschweigen von Religion überwindet, dann kann man sich und seine Mitmenschen besser kennenlernen.
Sie gehört zu jedem evangelischen Gottesdienst, aber aus unerfindlichen Gründen war sie noch nie ein Thema in diesem Podcast. Nun gibt es einen guten Anlass, dies zu ändern. Ruth Conrad, Professorin für Praktische Theologie in Berlin, hat gerade ein Kompendium zur Homiletik veröffentlicht. Aber keine Angst, es ist kein kiloschweres Handbuch, sondern ein sehr gut lesbares Essay. Darin zeigt sie, warum die Predigt immer noch wichtig ist, was Menschen von ihr erwarten und was die Bedingungen für ihr Gelingen sind. Als Motto dient ihr ein Satz des ukrainischen Schriftstellers Zhadan: „Das Herz der kleinsten Schwalbe ist stärker als der Nebel. Die Seele des hoffnungslosesten Vogels verdient unsere Sorge.“ Eine Predigt kann wie das Herz einer Schwalbe sein – ohne äußere Macht, aber voller Lebendigkeit, eine Kraft der Hoffnung. Die Predigt als Hoffnungsquelle zu bewahren, zu pflegen und zu lehren, ist für die Kirche unverzichtbar. Aber wie die Reaktion auf die Predigt von Mariann Budde zur Amtseinführung des neuen Präsidenten der USA gezeigt hat, kann sie auch viele Menschen jenseits der Kirchen ansprechen, anrühren, aufrütteln oder auch verärgern. Fast komisch aber ist dieser Widerspruch: Es sind so viele feste und negative Klischees über die Predigt im Umlauf – das war übrigens schon früher so –, aber die tatsächliche Predigtkultur ist kaum erforscht. Die Predigt – ein unbekannter Kontinent? Es lohnt, ihn zu erkunden, um so eine eigene Haltung zum und beim Predigen zu entwickeln. Ruth Conrad gibt dafür wertvolle Denkhinweise.
«Die Kunst ist frei. Eine Zensur findet nicht statt.» So oder ähnlich kann man es in allen Verfassungen demokratischer Staaten lesen. Kunstfreiheit ist ein unverzichtbares Menschenrecht. Aber sie ist in Gefahr. In den vergangenen zehn Jahren hat sich vor allem in Deutschland vieles verändert, was Anlass zur Sorge gibt. Olaf Zimmermann ist der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, des Dachverbands aller deutschen Kulturverbände, also so etwas wie Deutschlands oberster Kultur-Lobbyist. Genau beobachtet er, wie die Kunstfreiheit von oben, also von Staat und Politik, aber auch von einigen Medien, eingeschränkt wird (Stichwort «Antisemitismusklausel»). Aber auch von links, zum Beispiel durch den Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler. Oder von rechts, zum Beispiel durch digitale Kampagnen und höchst reale Bedrohungen von Kultur- und Gedenkeinrichtungen. Nun hat Olaf Zimmermann den Band «Kunstfreiheit» herausgegeben, der Artikel zum Thema aus den vergangenen Jahren versammelt, die in «Politik & Kultur», der Zeitung des Kulturrats, erschienen sind. Ein Gespräch über die vielfältigen Angriffe auf die Kunstfreiheit – und wie wir sie verteidigen können.
In der Not für die Seele sorgen – das ist zu einer kirchlichen Arbeit geworden, die hohe Anerkennung findet, auch bei nicht-religiösen Menschen. Vor besondere Herausforderungen wird die Notfallseelsorge durch Terroranschläge gestellt. Davon hat es in jüngster Zeit in Deutschland mehrere gegeben. In den Nachrichten heißt es dann regelmäßig: «Die Angehörigen werden seelsorgerlich betreut.» Thomas Zippert ist einer der Begründer der Notfallseelsorge in Deutschland und Herausgeber eines neuen Buchs zum Thema («Das neue Normal. Leben und Umgang mit Katastrophen in der Praxis der Notfallseelsorge»). Er erklärt, was Seelsorgerinnen und Seelsorger in diesem extremen Sonderfall tun oder tun sollten. Es ist eine schwierige Aufgabe. Denn verschiedene Gruppen brauchen Hilfe: die Verletzten, die Augenzeugen, die Ersthelfer, Polizistinnen und Feuerwehrleute, Angehörige, die Öffentlichkeit. All dies geschieht im Scheinwerferlicht. Denn der Einsatz ist von maximaler medialer Aufmerksamkeit begleitet. Zudem wird das Unheil sofort zum Gegenstand des politischen Streits. War der Täter ein Islamist oder ein Rechtsextremist, ein Ausländer oder ein Deutscher, kriminell oder psychisch krank? Verschiedene politische Parteien versuchen sofort, politischen Nutzen aus dem Schrecken zu ziehen. Kirchenvertreter dagegen rufen zu Besonnenheit und Zurückhaltung auf. Aber was täte den Betroffenen eigentlich gut? Was denken und fühlen sie selbst? Erstaunlich ist eine weltanschauliche Verschiebung. Früher wurde nach solch einem Unheil danach gefragt, wie Gott dies zulassen konnte. Heute wird darüber gestritten, warum der Staat es nicht verhindert hat. Hat die Religion also die Aufgabe an den Staat abgegeben, das Unerklärliche zu erklären? Aber wäre das ein Verlust? Die Notfallseelsorge kann sich doch jetzt darauf konzentrieren, die Betroffenen zu begleiten, zu stützen, vielleicht sogar zu trösten. Wie könnte es gelingen?
Der Umbruch, in dem sich die europäischen Kirchen befinden, hat auch eine architektonische Seite: Was soll aus all den Kirchbauten werden? Diese Frage kann man auch auf säkuläre Kulturbauten anwenden. In Deutschland wird man sich absehbar nicht mehr die vielen Museen, Theater, Opern und Kulturhäuser leisten – und nicht mehr wie bisher nutzen – können. Doch dieser Frage hat sich die Kulturpolitik bisher noch nicht gestellt. Die Kirchen sind da mindestens zwei Schritte weiter und haben inzwischen viel versucht: Kirchen wurden abgegeben, umgebaut, mit neuen Partnern neu genutzt, manchmal aber auch abgebrochen. Dabei ist viel in Bewegung geraten, alte Tabus, was in einer Kirche erlaubt oder verboten sei, aufgebrochen. Neue Möglichkeiten wurden ausprobiert. Aber es gab auch bittere Verluste. Der hessische Theologe Markus Zink hat nun das Praxisbuch «Kirche kann mehr. Kirchenräume weiter denken, nutzen, gestalten» veröffentlicht. Es will Menschen Mut machen, denen ihre Kirchbauten am Herzen liegen, die aber vor schweren Entscheidungen stehen. Zink stellt Beispiele von gelungenen Kirchenumnutzungen vor, die überraschen, irritieren und anregen. Er zeigt, mit welcher Intensität sich Menschen in der Kirche darum bemühen, ihre architektonischen Schätze zu bewahren, indem sie diese für ihr Gemeinwesen neu zugänglich machen. Allerdings kann er auch zeigen, welche negativen Lernerfahrungen bisher gemacht wurden: Allzu oft hat man versäumt, interessierte Menschen vor Ort angemessen zu beteiligen und hat zu schnell und zu teuer umgebaut. Auch ist es ein schwerwiegender Fehler, dass evangelische und katholische Gebäudeplanungen fast nie miteinander abgeglichen werden. Auch hier braucht es mehr Ökumene.
Martin Schäuble ist ein sehr anerkannter Jugendbuchautor, der sich schwierigen Themen stellt. In «Draußen mit Claussen» hat er vor einem Jahr über seinen Roman «Alle Farben grau» gesprochen, in dem er vom Suizid eines Jugendlichen erzählt. In seinem neuen Buch «Warum du schweigst» geht es um sexualisierte Gewalt im Breitensport. Dazu hat er intensiv recherchiert, mit Betroffenen und Fachleuten gesprochen. Viel hat ihm Ina Lambert, Geschäftsführerin von Safe Sport, geholfen. Erzählt wird die Geschichte von Lena. Fußball bedeutet ihr alles. Der neue Trainer bringt endlich Leidenschaft und Erfolg. Aber er fängt auch an, Grenzen zu überschreiten, erst unmerklich, dann immer massiver. Im Rückblick fragt man sich, warum das geschehen konnte, niemand eingeschritten ist oder geholfen hat. Es haben doch alle zumindest etwas gesehen, was sie hätte alarmieren müssen. Aber es fehlten das Interesse und der Mut einzuschreiten. Sensibel und genau erzählt Schäuble eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich viel zu oft im Breitensport ereignet. Beim Lesen stellen sich sofort Assoziationen ein zu Grenzüberschreitung und Machtmissbrauch in Kirchengemeinden, Kultureinrichtungen oder Schulen. Es scheinen oft dieselben Dynamiken und Strukturen zu sein, die sexualisierte Gewalt möglich machen. Umso wichtiger ist eine Prävention, die Betroffene, Zeugen und Verantwortungsträger befähigt, sich zu wehren. Ina Lambert erklärt, wie sie gelingen kann. Und dass man die Aufarbeitung nicht vernachlässigen darf.
Das Verbot, sich Bilder von Gott zu machen und sie zu verehren, hat für das Christentum eine grundsätzliche Bedeutung. Würde man denken, besonders in der reformierten Schweiz. Aber wie ist es zu verstehen, dass in der Christentumsgeschichte so unzählbar viele und verwirrend unterschiedliche Gottesbilder gemalt, gezeichnet, geschnitzt, geformt und gefilmt wurden? Es scheint ein unstillbares Bedürfnis danach zu bestehen, den eigenen Glauben in einem Bild vorzustellen – sich und anderen. Wer also den eigenen Glauben und den seiner Mitmenschen besser verstehen möchte, sollte dessen Bilder betrachten. Nun habe ich gerade eine Geschichte der christlichen Kunst veröffentlicht («Gottes Bilder»). Das war ein guter Anlass, mit meiner Reflab-Kollegin Johanna Di Blasi, die im Unterschied zu mir eine richtige Kunsthistorikerin ist, über dieses unendliche Thema zu sprechen. Wir unterhalten uns über den Glauben und seine Bilder, der «Gebrauchswert» von Gottesbildern, Klassiker und Übersehenes, Uraltes und Hochmodernes.
Warum treffen Menschen politische Entscheidungen, die man selbst so gar nicht nachvollziehen kann? Weil sie böse Menschen sind? Warum sind rechtsextreme Personen und Positionen zurzeit so erfolgreich? Viele der bisherigen Antwortversuche bleiben an der Oberfläche und gehen nicht auf die tieferen – emotionalen, existentiellen – Ursachen ein. Das aber unternimmt die soziologische Studie «Einsamkeit und Ressentiment», die Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel gemeinsam geschrieben haben. Die Studie beobachtet einen Zusammenhang zwischen Ressentiment und Einsamkeit, der zu antidemokratischen Einstellungen führen kann. Ressentiment ist ein Groll, der sich nicht frei entfaltet, um danach aufzuhören, sondern der in wütendem Grummeln dauerhaft am Leben erhalten bleibt. Man fühlt sich verletzt, zurückgesetzt, ausgeschlossen und reagiert darauf mit einer konstanten Schlechtgelauntheit, die zu Rachewünschen und am Ende auch zur Wahl rechtsextremer Parteien führen kann. Forscher sprechen von einer «Verbitterungsstörung». Sie hat aber reale Gründe: Man ist abgehängt. Man ist einsam. Der Göttinger Soziologe Berthold Vogel erklärt, was Einsamkeit mit Ressentiment zu tun hat, wo die realen Ursachen für beides liegen, ab wann es politisch gefährlich wird und was man als demokratische Gesellschaft tun kann.
Asyl und Migration sind die großen Erregungsthemen dieser Tage. Dafür gibt es Gründe. Die Verunsicherung ist groß. Sie wird aber auch geschürt. Verstörende Nachrichten, massive Bilder, verwirrende Debatten machen es einem nicht leicht, eine angemessene Haltung und Ausrichtung zu finden. Was zu oft übersehen wird: Es gibt eine inzwischen gut etablierte Migrationsforschung, in der Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenarbeiten. Sie erhebt die Zahlen und Fakten, über die es zu sprechen gälte. Zudem erinnert sie an die normativen Grundlagen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, die nicht leichtfertig geopfert werden dürfen. Schließlich arbeitet sie der Politik zu, berät und entwickelt eigene Programme, mit deren Hilfe Migration besser gesteuert und Integration möglich gemacht werden kann. Es würde in den aktuellen Diskussionen viel helfen, wenn mehr auf die Migrationsforschung gehört würde. Petra Bendel (Universität Erlangen-Nürnberg) arbeitet seit vielen Jahren in der Migrationsforschung und hat viele Veränderungen begleitet: die Entstehung einer europäischen Migrationspolitik Ende der 1990er Jahre, den Flüchtlingssommer 2015, die Ankunft von Menschen aus der Ukraine 2022 und jetzt der scharfe Gegenwind von rechts. Seriös erklärt sie, worum es heute geht, was zu tun ist und was auf keinen Fall geschehen sollte – engagiert und sachlich. Wer mehr über ihre Forschungen lesen möchte, klicke hier. Interessant ist auch ein Projekt, bei dem sie mitgearbeitet hat: Mit Hilfe eines digitalen Tools sollen Migranten und Zielorte besser aufeinander abgestimmt, gut gematcht werden. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen ist Petra Bendel wichtig. Besonders die Bedeutung von Kirchengemeinden bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen hebt sie hervor. Sie empfiehlt auch die Lektüre einer Broschüre, die die katholische und evangelische Kirche in Deutschland 2021 veröffentlicht haben: «Migration menschenwürdig gestalten».
Die Berliner Historikerin Dorothea Weltecke hat ein aufregendes Buch geschrieben, das viele Vorstellungen von dem umstürzt, was «das» Christentum, «das» Judentum oder «der» Islam sein sollen. Eine ihrer Thesen in «Die drei Ringe. Warum die Religionen erst im Mittelalter entstanden sind» (München 2024) lautet, dass die drei monotheistischen Religionen sich erst in einer langen gemeinsamen Geschichte mit- und gegeneinander entwickelt haben. Dabei lässt sich das, was sie verbunden und unterschieden hat, nicht mit einem heutigen Begriff von «Religion» fassen. Es ging in ihnen weniger um Glauben, Lehre und persönliche Überzeugung, als um ein gemeinsames Tun, rituelle Regeln und Gesetze, Treue zu einer Tradition. (Für viele religiöse Menschen außerhalb Europas ist das immer noch so.) Das Mittelalter war viel bunter und diverser, als wir uns heute vorstellen. Wie gingen die Menschen damals mit der Tatsache um, dass andere Menschen anderen Traditionen folgten? Dazu erzählt Weltecke von den Reiseerlebnissen, die zwei christliche Mönche aus Uigurien, ein muslimischer Pilger und ein reisender Rabbi aus Regensburg im 12. und 13. Jahrhundert gemacht haben. Oder sie sammelt, sortiert und deutet die vielen und erstaunlich unterschiedlichen Varianten der berühmten «Ringparabel», die man sich früher in vielen Kulturen erzählt hat. In diesem Buch geraten beliebte europäische Meinungen ins Wanken. Zum Beispiel die Vorstellung, dass erst die europäische Moderne die Toleranz erfunden habe und die Zeiten vorher nur von Religionshass und -gewalt geprägt gewesen seien. Oder das Klischee, dass es vor der europäischen Aufklärung keine Formen und Strategien des religiösen Zusammenlebens gegeben habe. Oder, dass Absolutheitsansprüche und Kontroverstheologien immer gewaltträchtig seien. Die Irritationen, die Welteckes Buch auslöst, sind gerade heute so wichtig, da die europäische Moderne immer mehr als ein Sonderweg erscheint, den weite Teile der Welt nicht nachvollziehen werden. Kann man vom Mittelalter etwas darüber lernen, wie verschiedene Religionen friedlich miteinander leben können?
Welcher Text und welche Musik sind eigentlich heilig und dürfen nicht verändert werden? Die Initiative Critical Classics hat es vor kurzem gewagt und das Libretto von Mozarts „Zauberflöte“ verändert. Denn einige Stellen wirken heute diskriminierend, frauenfeindlich. Durften sie das – sollten sie es gar? Das hat ein ziemliches Medienecho ausgelöst. Manche stimmten zu, andere schimpften über Cancel Culture. Nun wendet sich diese Initiative einem der wichtigsten Werke der geistlichen Musik zu: der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Sollen nun die Verse, die als judenfeindlich angesehen werden, ersetzt werden? Schon seit vielen Jahren wird in der evangelischen Theologie und Kirchenmusik kritisch über Teile von Bachs Johannespassion diskutiert. Sie wirken nicht erst nach der Shoa judenfeindlich. Wie kann man das heute noch singen und spielen? Viel ist versucht worden an Bildungsarbeit in Gesprächen vor den Aufführungen, in Texten in Programmheften. Aber reicht das? Die Initiative Critical Classics möchte einen Schritt weiter gehen und Vorschläge machen, wie man einige Passagen diskriminierungsfrei gestalten könnte. Aber würde dabei nicht Wesentliches verloren gehen? Wer heute Bachs Johannespassion singt oder hört, denkt unseren historischen (und theologischen) Abstand zu ihr immer mit oder sollte es tun. Das reizt zum Nachdenken, ohne den es den musikalischen Genuss und die geistliche Erbauung nicht geben kann. Doch wie soll man sich auseinandersetzen, wenn das Anstößige ausgeschieden worden ist?
Mit kaum etwas anderem lassen sich Gemüter so verlässlich in Wallung bringen wie mit ungewohnten Verbindungen von Religiösem und Geschlechtlichem. So war es zuletzt wieder nach der Eröffnungsshow der Olympischen Spiele in Paris zu erleben: Rechtskatholiken wollten da einen Drag Queen-Christus erkannt haben. Bei der folgenden, unnötigen Debatte zeigte sich erneut, wie wenig die selbsterklärten Verteidiger des christlichen Abendlandes von ihrer eigenen Tradition wissen. Allerdings würde auch ihren aktivistischen Kontrahenten mehr historische Bildung gut tun. Denn wer einen schwulen Jesus malt, wie zur diesjährigen Semana Santa in Sevilla, oder in einer Predigt «Gott ist queer» ausruft, wie beim letzten Kirchentag, ist weniger innovativ, als er meint, sondern ein spätes Glied einer langen und verwickelten Traditionskette. Wie gut, dass Anselm Schubert, evangelischer Kirchenhistoriker in Erlangen, in seinem neuen Buch mit dem schönen Titel «Christus (m/w/d)» nun für Aufklärung sorgt. Gelehrt, gelassen und gut lesbar führt er die höchst unterschiedlichen Geschlechterkonzepte aus Antike, Mittelalter, früher Neuzeit und Moderne vor, mit denen Gläubige sich ein Bild ihres Christus gemacht haben. So kurios viele seiner Funde anmuten, bemüht er sich doch stets um eine faire Deutung. In den vergangenen Jahrzehnten brachten der feministische und danach der genderpolitische Einspruch gegen die Männlichkeit Christi erheblich Umwälzungen. Aus ihnen folgten Versuche, das Christusbild zu feminisieren oder zu «queeren». Schubert erkennt darin neue Gestalten einer imaginativen Geschlechtertheologie, die eine lange Vorgeschichte hat.
In dieser Folge geht es um ein riesiges Thema. Zum Glück habe ich meine liebe Kollegin Johanna Di Blasi dazu eingeladen, die sich hier richtig auskennt. Wir beiden beschäftigen uns seit einiger Zeit, ganz unabgesprochen und von verschiedenen Seiten, mit den Themen Kolonialismus, Postkolonialismus, Geschichte der christlichen Mission. Das ist ein weites, umkämpftes, aber auch sehr interessantes Feld. Viel ist in den vergangenen Jahren in Bewegung geraten. Will man sich annähern, hilft es, sich mit einem exemplarischen Beispiel von Aufarbeitung der Kolonialgeschichte genauer zu beschäftigen: den Rückgaben von Raubgut. Das können Kult- und Kunstwerke sein, aber auch „human remains“, also menschliche Gebeine. Davon gab und gibt es erschreckend viele in deutschen Museen und Forschungsdepots. Einige kamen nach dem Genozid an den Herero und Nama nach Deutschland, andere im Zuge sogenannter «rassenkundlicher» Forschungen. Das ist ein besonders abstossendes Beispiel von Rassismus. Am Beispiel der Rückgabe von «human remains» oder «ancestral remains» von Deutschland nach Namibia aber zeigt sich, wie kompliziert es werden kann. Denn anders als verabredet, wurden diese Gebeine nicht beigesetzt. Die unterschiedlichen Gruppen in Namibia konnten sich nämlich nicht darüber verständigen, wo und wie dies geschehen sollte. Hier, wie auch bei drei anderen Rückgaben an Namibia, zeigte sich, dass eine Restitution allein die Schuld- und Konfliktgeschichte keineswegs beendet, sondern im «Empfängerland» alte Konflikte neu wachrufen kann. Aber es gibt auch gelungene Beispiele von Restitutionen. Neue Begegnungen werden möglich und münden in echte Partnerschaften. Neue Modelle der Besitzübertragung oder des geteilten Besitzes werden ausprobiert. Für die ethnologischen Museen in Deutschland und ausserhalb ist das eine große Chance, ebenso für die kleineren und doch sehr interessanten Missionsmuseen. Denn die Aufarbeitung des Kolonialismus ist auch eine wichtige Aufgabe für die europäische Christenheit heute. War ihre Mission doch immer auch mit der militärischen und wirtschaftlichen Dominanz Europas verbunden.
Es heißt, dass das Gefängnis ein Spiegel der Gesellschaft sei. Nur, wie kann man in einen Spiegel schauen, wenn man sich nicht vor ihn stellt? Deshalb habe ich einen alten Bekannten aus Vikarszeiten in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel besucht. Friedrich Kleine arbeitet dort als evangelischer Gefängnisseelsorger. Anschaulich erzählt er mir von seinem besonderen Arbeitsalltag. Wie er morgens in sein Büro geht und die Anträge von Häftlingen durchgeht, die mit ihm sprechen möchten, und sich dann auf den Weg durch die große, geschlossene Anlage macht. Er hat es mit sogenannten Langstrafigen zu tun, die mehr als vier Jahre einsitzen müssen, manchmal bis zu lebenslang. Was wollen sie von ihm, und was kann er für sie tun? Gefängnisseelsorger haben einen Vorteil: Sie sind zwar Teil der Gefängniswelt, besitzen aber auch eine pastorale Unabhängigkeit. Was Häftlingen oder Bedienstete ihnen sagen, bleibt bei ihnen. In unserem Gespräch räumt Kleine mit so einigen Klischees auf, die ich mitgebracht hatte. Z.B. dass es im Gefängnis besonders gewalttätig zuginge. Das Hauptproblem seien die Langeweile, die ewig gleichen Routinen, das Abstumpfen und die Vereinsamung. Engagiert spricht Kleine sich dafür aus, an den Prinzipien des humanen Strafvollzugs und der Resozialisierung festzuhalten. Einzelne Sicherheitsverstöße (z.B. geflohene Freigänger) – und deren mediale Skandalisierung – führten zu schnell dazu, dass sinnvolle Lockerungen plötzlich eingeschränkt würden. Ein Schwerpunkt unseres Gesprächs war die Frage, was Seelsorge an Tätern sein kann. Sollte die Kirche sich nicht ausschließlich um die Opfer von Gewalt und Kriminalität kümmern? Wie kann man mit Tätern seelsorgerlich arbeiten, wenn diese sich gar nicht als Täter verstehen, weil sie ihre Schuld noch nicht angenommen haben? Im Laufe unseres Gesprächs darüber ging mir auf, dass diese Fragen, die im Gefängnis natürlich eine besondere Schärfe haben, mir auch draußen, in meiner vermeintlich normalen seelsorgerlichen Arbeit begegnen können. Das Gefängnis ist zwar eine Sonderwelt, aber eben auch ein Spiegel unserer Gesellschaft.
Vielleicht gibt es doch mehr Religion hierzulande, als man gemeinhin annimmt. Man müsste sich nur neugieriger und unbefangener umsehen. Dann würde man feststellen, dass erstaunlich viele Menschen gern in Kirchen gehen, um eine Kerze zu entzünden. Oder kleine Bronzeengel verschenken. Oder sich sorgfältig auf Weihnachten vorbereiten. Oder heimlich beten. Oder regelmäßig Konzerte geistlicher Musik besuchen. Oder pilgern. Oder fasten. Oder oder oder. Solche unscheinbaren Formen spätmodern-christlicher Frömmigkeit hat der Praktische Theologe Kristian Fechtner von der Universität Mainz erkundet, ergründet und ein schönes Buch darüber geschrieben («Mild religiös», 2023). Und zwar mit Sympathie. Denn er hält viel von diesen Gestalten eines milden Christentums, die bei Gelegenheit aufleben, dabei aber stets etwas mit dem Leben der Menschen zu tun haben, die sie pflegen. Damit stellt er sich gegen eine alte und immer noch mächtige theologische Tendenz, die den Glauben vor allem normativ begreift – von der dogmatischen Lehre oder der kirchlichen Institution her. Nach ihr ist die Frömmigkeit, die «die Leute» selbständig gestalten, nie gut genug. Fechtner geht menschenfreundlicher, entspannter und konstruktiver mit der Gretchenfrage um und kommt zu positiveren Ergebnissen. «Wie hältst du's mit der Religion – der Menschen heute?» Da gibt es mehr, was sich wertschätzen und wohlwollend bedenken lässt. Dass es leise, unaufdringlich, leicht zu übersehen, nicht medientauglich ist, spricht nicht dagegen, sondern dafür. Denn diese Frömmigkeit hat ihren Sinn nicht darin, sich über andere zu erheben oder von anderen abzugrenzen, sondern dem eigenen Leben (und dem der Nächsten) zu dienen.
In Deutschland hat ein «Kirchenmanifest» für Aufsehen gesorgt. Es will eine öffentliche Debatte um die Zukunft kirchlicher Gebäude anstoßen – die nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Schweiz nötig ist. Noch gibt es einen einzigartigen Reichtum an alten und modernen Kirchbauten. Bislang wurde er von den evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern mit ihren Kirchensteuern finanziert (wobei natürlich der staatliche und der zivilgesellschaftliche Denkmalschutz viel mitgeholfen haben). Aber mit dem demographischen Wandel, der nachlassenden Kirchenbindung und der abnehmenden Bereitschaft, Kirchensteuern zu zahlen, wird dies so nicht weitergehen. Viele Kirchengemeinden sind genötigt, sich zu überlegen, welche Finanzmittel sie für welche Gebäude einsetzen. Das führt zu harten Entscheidungen: Sakralbauten werden anders- oder neugenutzt, ab- und aufgegeben oder abgerissen. Hier setzt das «Kirchenmanifest» ein. Es zeigt, dass die Zukunft der Kirchbauten die ganze Gesellschaft angeht. Denn Kirchen sind nie nur Kirchen. Sie sind Kulturorte, in der regionale, nationale und europäische Traditionen aufbewahrt sind. Sie sind Gedächtnisorte, an denen ein Gemeinwesen seiner Geschichte gedenkt. Sie sind Versammlungsorte, an denen auch nicht-kirchliche Nachbarn ein eminentes Interesse haben sollten. Deshalb ruft das «Kirchenmanifest» alle Bürgerinnen und Bürger sowie die politisch Verantwortlichen auf, sich dieser kulturellen und sozialen Zukunftsaufgabe zu stellen. Wer dieses Anliegen unterstützen möchte, kann die Online-Petition unterzeichnen. Bisher stehen dort schon über 17.000 Namen. Einen praktischen Vorschlag gibt es auch: Kirchbauten, die nicht mehr benötigt würden, sollten in eine Stiftung (oder mehrere) überführt werden. Eine Diskussion mit einer Initiatorin des «Kirchenmanifests», der Kunsthistorikerin und Theologin Karin Berkemann.
Das Leben und Leiden der Menschen in Israel wie in Gaza und dem Westjordanland geht uns in Europa an. Leider stehen Sachkenntnis und Meinungsfreude selten in einem angemessenen Verhältnis. Vor allem kommt es zu vielen sprachlichen Entgleisungen und diskursiven Verhetzungen. Der renommierte Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar hat nun ein Buch veröffentlicht, das für dringend benötigte Orientierung sorgt („Israel: Hamas – Gaza – Palästina. Über einen scheinbar unlösbaren Konflikt“, Europäische Verlagsanstalt). In nur drei Wochen hat er es geschrieben, aber es ist alles andere als ein publizistischer Schnellschuss. Was Kraushaars Buch so wertvoll macht – neben einer klaren geschichtlichen Orientierung – ist, dass er einen der aktuellen Kampfbegriffe nach dem anderen untersucht. „Genozid“ – „Apartheid“ – „Kolonialismus“ – „Terroristen“ – „Islamismus“. Mit größtmöglicher Sachlichkeit, und dabei sehr um Fairness bemüht, legt Kraushaar offen, was an diesen Schlagworten dran ist – oder eben auch nicht. Oft genug dienen nämlich die geschichtlichen Gleichsetzungen (nicht Vergleiche) nicht dem Verstehen und der Verständigung, sondern der rhetorischen Erledigung des jeweiligen Feindes.
Er galt als der fünfte Evangelist des deutschen Protestantismus und ist doch längst ein universaler Komponist. Die Musik von Bach fasziniert heute Menschen in allen Teilen der Erde – egal, ob und wie sie religiös geprägt sind. Ein Beispiel dafür ist die aus der Türkei stammende und heute in Deutschland lebende Pianistin Serra Tavsanli. Schon als Kind begegnete sie in Istanbul Bachs Musik – dies sollte ihrem Leben eine unvorhergesehene Richtung geben. Ein Gespräch über die grenzüberschreitende Kraft geistlicher Musik. Als sie fünf Jahre alt war, schenkten ihr die (armenischen) Nachbarn ein Klavier, und ihre westlich eingestellten Eltern förderten sie bei ihren ersten Schritten in die klassische Musik. Eine Welt öffnete sich. Von entscheidendem Einfluss war Johann Sebastian Bach und ist es bis heute geblieben. Als Serra Tavsanli mit 19 Jahren an die Musikhochschule Hannover kam, lernte sie das weite Repertoire klassischer Klaviermusik kennen, aber Bach blieb für sie die Leitfigur. Inzwischen hat sie ihm drei Alben gewidmet. Das neue trägt den Titel «Inner Spaces». Denn es sind innere Räume, die seine Musik ihr geöffnet hat. So regelgeleitet seine Kompositionen erscheinen mögen, lassen sie der Interpretin doch sehr viel Freiheit, aus ihr etwas unverwechselbar Eigenes zu machen. Vielleicht ist dies das Geheimnis seiner weltweiten Wirkung. Denn so sehr Bach selbst Teil einer bestimmten, nationalen und konfessionellen Geschichte – eben des deutschen Protestantismus des 18. Jahrhunderts – gewesen war, ist er längst ein Welt-Komponist, der heute in Japan, Malaysia, Südafrika oder Südamerika Menschen verzaubert und dazu bringt, seine Werke aufzuführen. Das liegt sicherlich an der unsterblichen Qualität seiner Musik, aber auch an der Freiheit, die sie eröffnet. Das gilt auch für ihren religiösen Gehalt. Bachs geistliche Musik ist nicht auf den engen Bereich eines alten Luthertums beschränkt, sondern kann heute auch Menschen mit ganz anderen religiösen Prägungen. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist Serra Tavsanli.
Nichts erscheint so vertraut und heimatlich wie die Dorfkirche, auch für Städter. Doch man bekommt einen ganz anderen Sinn für ihre religiöse, kulturelle und soziale Bedeutung, wenn man sie mit den Augen einer Ethnologin betrachtet. Idyllische Projektionen lösen sich dann auf, und es kommt eine überraschend vielfältige Wirklichkeit zum Vorschein. Die Ethnologin Juliane Stückrad hat vor kurzem ein sehr lesenswertes Buch veröffentlicht: «Die Unmutigen und die Mutigen». Darin beschreibt sie mit großer Sensibilität und ethnologischer Kompetenz die Lebenseinstellungen von Menschen in Brandenburg. Irritierend und erhellend ist besonders, was sie über die «Unmutigen» schreibt – Menschen, die sich abgehängt fühlen und darauf mit Wut reagieren. Wer die tieferen Gründe für kommunikative und körperliche Gewalt in politischen Auseinandersetzungen heute verstehen will, sollte dieses Buch lesen. Aber es hat zum Glück auch einen zweiten Teil. Darin widmet Stückrad sich den «Mutigen» – Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen, sondern gemeinsam etwas auf die Beine stelle. Das muss gar nichts Großartiges sein. Es geht ihr nicht um spektakuläre Erfolgsgeschichten, sondern um schlichtes soziales Engagement und gelebte Humanität. Beispielhaft steht dafür der Einsatz vieler Menschen in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands für ihre Dorfkirchen. Selbst Menschen, die von sich sagen, dass sie «mit der Kirche nichts am Hut haben», zeigen hier einen erstaunlichen Einsatz. Was in und um Dorfkirchen heute geschehen kann – an kulturellem Leben und demokratischem Engagement –, das erkundet Stückrad als Ethnologin im eigenen Land, und zwar so, dass man als Theologe viel Neues erfährt. Zum Beispiel, was Dorfkirchen mit Ahnenkult und menschenfreundlicher Magie zu tun haben.
Der Neue Wall ist eine der teuersten Straßen Hamburgs. Ein Luxusgeschäft reiht sich ans andere. Doch wem gehören die prächtigen Häuser heute, und wem haben sie früher gehört? Während der NS-Diktatur wurden hier viele jüdische Menschen ihres Eigentums beraubt. Ein Projekt der Evangelischen Akademie der Nordkirche hat diese Geschichte nun erforscht – Haus für Haus. Warum und wie sie dies getan hat, erzählt Jörg Herrmann, der Akademiedirektor. Ein Gespräch über ein Stück Hamburger Lokalgeschichte, das beispielhaft ist für ganz Deutschland.
An diesen Krieg kann man sich nicht gewöhnen. Aber die mediale Berichterstattung stumpft auch ab. Deshalb ist es wichtig, wenn Menschen die Ukraine besuchen und wir ihnen zuhören. Dr. Jörg Lüer, Geschäftsführer des katholischen think tanks «Justicia et Pax», war gerade – zum wiederholten Mal – dort und kann aus erster Hand berichten.
Kolonialismus ist nach langem Schweigen wieder ein öffentliches Thema. Es gibt heftige Debatten über Unrecht, Wiedergutmachung, Rückgabe von Beutestücken. Aber was heisst das für einen selbst? Wo finden wir in unserer Familiengeschichte, in unseren eigenen vier Wänden koloniale Erbstücke, die uns zu einer persönlichen Aufarbeitung bewegen? Die Kulturjournalistin Nicola Kuhn (Tagesspiegel) hat darüber das sehr lesenswerte Buch, «Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam» geschrieben.
Es ist gar nicht so leicht, Menschen heute den Sinn und die Schönheit alter christlicher Kunst nahezubringen. Im Berliner Bode-Museum aber lässt man sich dafür viel Überraschendes und Augenöffnendes einfallen. Ein Gespräch mit der Kuratorin Maria Lopez-Fanjul y Diez del Corral.
Drei Landtagswahlen sowie Kommunalwahlen in Ostdeutschland könnten in diesem Jahr der in großen Teilen rechtsextremen AfD hohe Gewinne bringen. Wie ist das zu erklären, und was bedeutet es für die Demokratie? Erklärungsversuche eines der besten Kenner des ostdeutschen Rechtsextremismus, David Begrich (Miteinander e.V.).
Der Krieg zwischen Israel und der Hamas hat viele Opfer. Auch in Europa treibt er die Menschen um und verschärft Konflikte zwischen Gruppen, die sich im Alltag zu selten direkt begegnen. Wie denken und empfinden junge Muslime in Deutschland darüber? Wie kann man mit ihnen argumentieren? Ein Gespräch mit Imam Scharjil Ahmad Khalid von der Khadija-Moschee in Berlin-Pankow.
Caspar David Friedrich fasziniert, nicht nur in diesem Jubiläumsjahr. Aber worin besteht diese Faszination genau? Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Helfen kann zum Glück die Kunsthistorikerin Dr. Birte Frenssen vom Pommerschen Landesmuseum Greifswald, Friedrichs Heimatstadt. Sie erklärt, was seine Landschaftsbilder so bedeutsam macht, wo sie einen religiösen Sinn in sich tragen und Menschen einen Anstoß geben, sich „aufzuschwingen“, und wie sie unsere Wahrnehmung der Natur vertiefen können.
Die „Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche“ (HuK) setzt sich seit langem für Gleichberechtigung ein. In den deutschen Kirchen hat sie viel bewirkt. Nun aber hat sie einen verstörenden Aspekt ihrer Geschichte aufarbeiten lassen: ihre fehlende Abgrenzung von Pädosexuellen.
Nicht wenige Zeitgenossen meinen, Christentum und Menschenrechte wären Gegensätze. Dabei gibt es auch christliche Begründungen einer Rechtskultur der Glaubensfreiheit und Toleranz. Eine berühmte Forschungsthese behauptet sogar: Die Menschenrechte hätten einen religiösen Ursprung. In ihrer preisgekrönten Dissertation hat die Rechtswissenschaftlerin Annabelle Meier sie überprüft. Ihre Arbeit ist wichtig für das historische Verständnis, aber auch für das heutige Engagement für Menschenrechte.
Musik kann, so heisst es, eine Art Gottesdienst sein. Oder religiöse Erfahrungen eröffnen. Besonders häufig wird das über den Jazz gesagt. Aber wie genau ist das zu verstehen, zu spielen und zu hören? Ein Gespräch mit dem Saxophonisten und Autor Uwe Steinmetz.
Kein Heiliger wurde so verehrt. Aber in protestantischen Gegenden kennt man ihn kaum. In säkularen Zeiten gerät er ins Vergessen. Der Jugendbuchautor Alois Prinz hat jetzt das Leben des Franz von Assisi so erzählt, dass er plötzlich wieder interessant und gegenwärtig wird.
Diktaturen sind Staatsmaschinen, die Menschen verschlingen. Um ihre Mechanik zu verstehen, kann die Literatur helfen. Nun hat die aus Russland stammende Autorin Irina Rastorgujewa eine große, bisher unbekannte Erzählung über den stalinistischen Terror ins Deutsche übersetzt (Georgi Demidows «Fone Kwas»). Was lehrt sie uns heute?
Gerade ist der sehr lesenswerte 3. Ökumenischer Bericht zur Religionsfreiheit erschienen. Am Beispiel des Menschenrechts auf Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit schaut er auf Grundfragen und verschiedene Länder in der Ferne – und damit auch auf die Menschenrechtslage bei uns. Ein Gespräch mit Sabine Dressler, die als Geschäftsführerin für die Fertigstellung dieses wichtigen Textes gesorgt hat.
«Protestantismus» hatte von Beginn an auch mit «Protest» zu tun. Das gilt auch für die Gegenwart der ökologischen Krisen und Konflikte. Wie soll die evangelische Kirche hier Stellung beziehen? Was kann sie für mehr Klimaschutz und Klimagerechtigkeit tun? Was wäre ihr unverwechselbarer Beitrag? Ein Gespräch mit Anna-Nicole Heinrich, der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Sie war die erste prominente Theologin in Deutschland. Vor zwanzig Jahren ist sie verstorben. Was bleibt von ihrem Werk und ihrem Engagement? Ein Gespräch mit dem Theologen und Journalisten Konstantin Sacher. Er hat zum Gedenktag das Buch „Dorothee Sölle auf der Spur. Annäherung an eine Ikone des Protestantismus“ geschrieben.
Elke Mack hat vor kurzem eine rechtliche und rechtsethische Studie mit dem Titel „Sexkauf“ veröffentlicht, die in Deutschland für großes Aufsehen in Politik und Medien gesorgt hat.
Über Suizide, vor allem von jungen Menschen, wird wenig gesprochen. Zum einen, weil es unfassbar ist. Zum anderen, weil man Nachahmung befürchtet. Der Jugendbuchautor Martin Schäuble aber hat es versucht. Basierend auf einer wirklichen Geschichte, hat er einen Roman über den Suizid eines 16-jährigen Jungen geschrieben („Alle Farben grau“).
Die evangelische Kirche in Deutschland verliert Mitglieder – in epochalem Ausmaß. Zugleich herrscht in der Kirche eine seltsame Sprachlosigkeit. Viele scheinen zu verstummen. Wie kann man die aktuelle Entwicklung verstehen, wie mit ihr umgehen? Ein Gespräch mit Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutsche Kulturrats und streitbarer Protestant.
In Italien gilt Alda Merini als eine der größten Dichterinnen der Moderne. Ihre Verse bezeugen ein beispielloses Leben aus Schmerz, Krankheit, Gewalt, Glaube, Liebe und Freude. Die Theologiestudentin Magdalena Bredendiek hat sie jetzt für den deutschsprachigen Raum entdeckt.
Wie kann ich mich auf das konzentrieren, was ich wirklich brauche? Wie kann ich mich befreien aus der Spirale des Konsums und der Selbstentfremdung im Digitalen? Der Schriftsteller und Dramaturg John von Düffel hat darüber ein bemerkenswertes Buch geschrieben.
Vor wenigen Wochen sprach ich über den äthiopischen Bürgerkrieg mit einer Frau, die aus Tigray stammt. Heute nehme ich das Thema wieder mit einer anderen Perspektive auf den Konflikt. Ich spreche mit Sebastian Brandis, der die Stiftung „Menschen für Menschen“ leitet und gerade aus Äthiopien zurückgekehrt ist. Er hat Interessantes über dieses Land zu erzählen, auch über seinen eigenen Lebensweg.
Wie kaum ein anderer hat sich Anton G. Leitner als Autor und Verleger der Poesie verschrieben. Seine wunderbare Zeitschrift „Das Gedicht“ feiert deshalb gerade groß ihren 30. Geburtstag. Einen besonderen Sinn hat Leitner für religiöse Spuren in der zeitgenössischen Lyrik. Aber wann kann man sagen, dass ein Gedicht religiös sei?
Sexualisierte Grenzüberschreitung und Gewalt sind endlich ein öffentliches Thema. Aber haben wir schon eine richtige Form gefunden, ehrlich und persönlich darüber zu sprechen? Und zwar nicht nur „darüber“, sondern miteinander? Ein Gespräch mit dem katholischen Theologen und Familientherapeuten Justinus Jakobs (Kinder- und Jugendheim der Caritas, Rheine).
Die europäische Christenheit hält sich immer noch für den Nabel der Welt. Zurzeit kreist sie am liebsten um die eigene Krise. Hilfreich wäre ein Perspektivwechsel. Claudia Rammelt könnte dabei helfen. Sie forscht seit vielen Jahren an der Universität Bochum über die Lage christlicher Gemeinschaften im Nahen Osten. Zugleich engagiert sie sich im Netzwerk „Migrationskirchen vor Ort“. Denn beides hängt miteinander zusammen: Die Situation der Christen dort und hier.
Im Osten Kongos wüten immer noch grausame Unruhen. Aber hierzulande scheint sich niemand mehr dafür zu interessieren. Albrecht Philipps hat diese Region kürzlich mit einer Delegation der evangelischen Landeskirche von Westfalen besucht. Er hat Erschütterndes erlebt und versucht, seine Eindrücke zu sortieren.
Helga Schubert ist eine wunderbare Schriftstellerin. Wunderbar ist auch die Geschichte ihres Schreibens. Vor über fünfzig Jahren fing sie an, damals noch in DDR, dann war es lange still um sie. 2020 aber gewann sie wie aus dem Nichts den Bachmann-Preis, und das Buch dazu – „Vom Aufstehen“ – wurde ein großer Erfolg. Jetzt ist das neue Buch der 83-Jährigen erschienen: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“. Ein Gespräch über Bücher, die zum Leben und beim Sterben helfen, sowie über die Schönheit des Einfachen.
Tigray ist uns näher, als wir vielleicht meinen. Der dortige Bürgerkrieg stellt grundsätzliche Fragen, auch über die Bedeutung christlicher Kultur und über die Rolle der Kirchen in diesem Konflikt. Ein Gespräch mit der ursprünglich aus Tigray stammenden Wissenschaftlerin Aster Gebrekirstos.
Es heißt, die Demokratie sei in Gefahr. Radikalisiert sich die Klimabewegung? Oder ist rechter Terror die eigentliche Bedrohung? Ein Gespräch mit Wolfgang Kraushaar, einem der besten Kenner und Analytiker von Protestbewegungen und extremistischem Terror.
„Berlin ist für mich wie ein offenes Grab“, sagt der jüdische Klarinettist Nur Ben Shalom. Gerade deshalb hat er sein einzigartiges Musik-Projekt „Lebensmelodien“ genannt. Auch zwischen 1933 und 1945 haben jüdische Musikerinnen und Musiker komponiert und musiziert, einfache jüdische Menschen haben gesungen. Unter Verfolgung, in Ghettos und Lager, angesichts des nahenden Todes haben sie mit ihrer Kunst Zeugnis abgelegt, ihre Würde verteidigt, zu trösten versucht. Zum Glück konnten einige dieser Werke gerettet werden. Nun hat es sich Ben Shalom zur Aufgabe gemacht, sie wieder zu Gehör zu bringen. Was hat ihn dazu bewegt? Was erlebt er dabei?