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Unser Weg durch das Recht der Gesellschaft von Niklas Luhmann zum mithören, mitlesen und mitdenken.

J. Feltkamp, U.Sumfleth


    • May 4, 2025 LATEST EPISODE
    • monthly NEW EPISODES
    • 1h 16m AVG DURATION
    • 92 EPISODES


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    90. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 403, K08

    Play Episode Listen Later May 4, 2025 89:14


    Hinweis: Für Tonstörungen zwischen der 62. und 74. Minute bitten um Entschuldigung. Letzter Abschnitt über juristische Argumentation: Sich ausdifferenzierende Funktionssysteme wie das Recht verlagern ihre Kernoperationen zunehmend auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Hierin sieht Luhmann ein Strukturmerkmal der Moderne. Juristisches Argumentieren versteht sich immer im Kontext der Beobachtung zweiter Ordnung. Schon die Vorbereitung der Argumentation rechnet damit, dass ihre Ausführung in einem sozialen System stattfindet und von anderen beobachtet werden wird. Andere werden die Argumentation interpretieren und darauf reagieren. Beobachtung zweiter Ordnung ist die Beobachtung von Beobachtungen – und ein Strukturmerkmal von Funktionssystemen wie Politik, Wirtschaft oder Recht. Das System beobachtet Beobachter, und es richtet sich darauf ein. Die Wirtschaft beobachtet Preise und reagiert auf Preisänderungen, im Bewusstsein, dass Konkurrenten und Konsumenten ebenfalls Preise beobachten und auf Veränderungen reagieren. Der Politik ist bewusst, dass sie von Massenmedien beobachtet wird, an deren veröffentlichter Meinung sich WählerInnen orientieren, was wiederum politische Reaktionen erzwingt. Die Beobachtung von Beobachtungen dient als Orientierungspunkt im System. Offenbar verlagern Funktionssysteme, je mehr sie sich ausdifferenzieren, ihre Kernoperationen zunehmend auf diese Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Den Umgang damit managen sie jeweils in operativer Geschlossenheit. Wie aber können die Reflexionstheorien solcher Funktionssysteme sicher sein, dass sie sinnvoll beobachten? Hier arbeitet das Recht methodisch mit „inviolate levels“: Bestimmte, als unverbrüchlich geltende Grundannahmen werden nicht weiter hinterfragt. Zum Beispiel: Marktbedingte Preise werden mit rationaler Informationsverarbeitung assoziiert. Oder die „öffentliche Meinung“ mit Demokratie. Derartige Annahmen wirken wie „Abschlussregeln“. Sie geben vor, welcher Teil des Normtextes interpretiert werden soll und welcher nicht. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, Beobachtungsverhältnisse in der Praxis zu organisieren. Methodendiskussionen zeugen von der Tendenz zu Reflexionstheorien. Schon Ludwig Wittgenstein († 1951) wies darauf hin, dass Begriffe für sich genommen leer sind, nur ein „Spiel mit der Sprache“. Ihr Sinn erschließt sich erst aus dem jeweiligen Kontext, in dem Begriffe verwendet werden. In den 1960er-Jahren setzte sich infolge der „strukturierenden Rechtslehre“ von Friedrich Müller die Erkenntnis durch, dass Rechtsprechung immer eine fallbezogene Interpretation eines Individuums ist. Auch der britische Soziologe Anthony Giddens wies 1984 in einer Theorie der Strukturierung auf Wechselwirkungen hin, also auf die Bedeutung von Beobachtungsverhältnissen, die sich gegenseitig unter Spannung halten. Dass Reflexionstheorien nun verstärkt beobachten, wie Beobachter beobachten, bedeutet jedoch nicht, dass sich bewährte Kanone auflösen würden. Eher scheint sich die Beobachtung zweiter Ordnung selbst als Ordnung zu etablieren. Das bedeutet: Was im System jeweils anschlussfähig ist und als „Realität“ gelten soll, wird weniger durch die Argumentation selbst festgelegt und mehr durch ihre Beobachtung.

    89. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 400, K08

    Play Episode Listen Later Mar 31, 2025 50:34


    Welche Funktion hat die Logik für die juristische Argumentation? „Logisches Schließen“ ist in der juristischen Argumentation Standard. Bei der Interpretation des geltenden Rechts werden Argumentation und Begründung so formuliert, dass sie möglichst nur eine logisch zwingende Schlussfolgerung zulassen. Die Funktion der Logik besteht im Erkennen und Vermeiden von Fehlern, und in der Abschätzung von Folgen, die Änderungen des Rechts zur Folge haben.

    88. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 393, K08

    Play Episode Listen Later Feb 23, 2025 96:26


    Welches zugrunde liegende Problem offenbaren die Theoriekontroversen über Interessen- und Begriffsjurisprudenz? Das rekonstruiert die Theorie sozialer Systeme anhand der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Der Streit über Interessen- und Begriffsjurisprudenz Anfang des 20. Jh. hatte die Funktion des Rechts theoretisch nicht befriedigend erklären können. Auffällig: Der Begriff des Interesses verweist auf die Umwelt des Rechts. Eine Rechtstheorie müsse jedoch beobachten, wie die Rechtsprechung damit umgeht. Im achten Abschnitt will Luhmann nun rekonstruieren, welches zugrunde liegende Problem die Kontroversen offenbaren. Hierzu unterscheidet er formale und substantielle Argumente. Formales Argumentieren bedeutet Selbstreferenz und Bezug auf Rechtsbegriffe. Substanzielles Argumentieren bedeutet Fremdreferenz und Bezug auf die Umwelt. In dieser Umwelt gibt es selbstverständlich ebenfalls, teils gleichlautende Begriffe, wie das „Interesse“. Formale Argumente sind selbstreferentiell, zum Beispiel: Formvorschriften. Substantielle Argumente lassen dagegen Erwägungen zu, die in der Umwelt mutmaßlich eine hohe Rolle spielen. Auf diese Weise verhindert das Rechtssystem Selbstisolation und bleibt in der Lage, „offen“ für die Umwelt zu sein. Systemintern verarbeitet es Begriffe und Interessen aus der Umwelt jedoch ausschließlich in operativer Geschlossenheit. Argumentieren bleibt eine systeminterne Operation, auch wenn Begriffe der Umwelt benutzt werden, wie „Interesse“. Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen System/Umwelt. Die Umwelt schätzt ihre Interessen stets als „berechtigt“ ein und plädiert dafür, bevorzugt zu werden. Für das Rechtssystem sind jedoch alle Interessen zunächst gleichwertig. Es homogenisiert die Interessen der anderen, um dann erst, von Gleichwertigkeit ausgehend, eine durch Recht gerechtfertigte Entscheidung zu treffen, wessen Interessen bevorzugt bzw. zurückgewiesen werden. Und ausschließlich dafür braucht es Argumente und Begründungen. Das Rechtssystem baut ein Interesse der Umwelt somit in ein systeminternes Konstrukt um. Dieses ist nicht deckungsgleich mit den Vorstellungen und Erwartungen der Umwelt. Laufende Selbstreferenz durch Bezugnahme auf Rechtsbegriffe heißt nicht, dass das System „zirkulär“ argumentieren würde. Im Gegenteil: Die Selbstbezüglichkeit erfüllt die Funktion, dass Begriffe wie eine Schablone auf den aktuellen Fall angewendet werden müssen und es dadurch erst ermöglichen, gleiche Fälle von ungleichen zu unterscheiden. Auf diese Weise enttautologisieren Begriffe die Selbstreferenzialität des Rechts. Sie ermöglichen Unterscheidungen, die einen Unterschied machen. Aus dem Umweltbegriff des Interesses hat das Rechtssystem also einen eigenen Rechtsbegriff des Interesses gemacht. Mit diesem zwingt es sich zur systeminternen Unterscheidung von berechtigten/nicht berechtigten und zu bevorzugenden/zurückzusetzenden Interessen. Die Kontroverse Begriffsjurisprudenz/Interessenjurisprudenz ähnelt der älteren Kontroverse zwischen Rationalismus/Empirismus, die ebenfalls Mühe hatte, Selbst- und Fremdreferenz zu unterscheiden. Für den Rationalismus steht Descartes, der mit dem Satz „Ich denke, also bin ich“ davon ausging, dass die Selbstbeobachtung des „Subjekts“ „objektive“ Erkenntnis ermögliche. Für den Empirismus steht Francis Bacon, der auf die Umwelt verwies: Messbare Beobachtungen in der Umwelt ermöglichen dem „Subjekt“ Erkenntnisse. Unterbelichtet in beiden Kontroversen blieb der Sinn des Unterscheidens zwischen Selbst- und Fremdreferenz selbst. Das eine bedingt das andere. Für das Rechtssystem ist die Unterscheidung von Begriffen und Interessen jeweils eine systeminterne Operation. Dass es sich selbst von der Umwelt unterscheidet, ist Voraussetzung für seine Autopoiesis (Selbstreproduktion). Ohne die Unterscheidung würde das Rechtssystem nicht existieren. Vollständiger Text: Luhmaniac.de

    87. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 389, K08

    Play Episode Listen Later Jan 30, 2025 72:32


    „Interessenjurisprudenz“ gilt als gescheiterter Versuch, den Begriff des Interesses aus der externen Umwelt des Rechts in Form einer Theoriedebatte in die Rechtswissenschaft einzuführen. Um 1900 führte eine pragmatisch-zweckdienlich auftretende Theorie den Begriff des Interesses in die Rechtswissenschaft ein. In Deutschland entfachte die Theorie Diskussionen unter dem Terminus „Interessenjurisprudenz“ (prudentia, lat.: Klugheit, Vernunft). In den USA wurde sie mit anderen Konzepten kombiniert (z.B. mit social engineering, social policy, Instrumentalismus und „legal realism“). Eine Zeitlang schien die Frage debattierfähig, ob die Funktion des Rechts im Schutz „berechtigter“ Interessen liegen könnte. Also: in einem Zweck, den die externe Umwelt des Rechts bestimmt. Funktion und Zweck des Rechts wären demnach dasselbe. Eine Tautologie: Die Unterscheidung ergibt keinen Unterschied! Die Diskussion vergaloppierte sich. In Deutschland wirkte sie sich u.a. auf die Dogmatik des gerade kodifizierten Zivilrechts aus. Im Zuge dieser Bewegung entwickelte sich eine weitere neue Theorie über den Begriff des Begriffs. Die Debatte darüber wiederum wurde unter dem Etikett „Begriffsjurisprudenz“ polemisch kommentiert. Bezeichnend erscheint hier Jherings Hinweis, jede Wissenschaft operiere mit Begriffen, weswegen man genauso gut auf den Zusatz verzichten könnte (Fußnote 128, S. 390f.). Als wichtig erachtet Luhmann, „Interessenjurisprudenz“ nicht als Gegensatz von „Begriffsjurisprudenz“ zu begreifen. Vielmehr erscheint die Einführung des Interessenbegriffs in Form einer Theorie als Versuch, die Funktion des Rechts zweckdienlich aus Umweltperspektive zu bestimmen. Ähnliches war zuvor schon mit dem Begriff der Freiheit als nur zweckerfüllendes Um-zu-Programm versucht worden. Freiheit oder Interessen: Beide Begriffe verführen dazu, die Funktion des Rechts auf eine Zweckerfüllung von Wünschen aus der Umwelt zu reduzieren. Demnach bestünde die Funktion darin, die größtmögliche Freiheit für Individuen zu gewährleisten oder eben ihre Interessen zu schützen. Unbefriedigend! Das Recht ist kein Zweckprogramm. Ebenso wenig die Freiheit: Es gibt Notwendigkeiten, sie einzuschränken. Vor allem aber lenkt der Interessenbegriff die Aufmerksamkeit nicht aufs Recht, sondern auf seine externe Umwelt. Eine Rechtstheorie, die den Begriff des Interesses einordnen will, muss also die Rechtsprechung beobachten – und nicht die Interessen der Gesellschaft. Dann fällt auf: Die Rechtsprechung geht nur vage auf den Interessenbegriff ein, nicht theoretisch fundiert. Das Gleiche gilt für die Folgeneinschätzung, die in vorigen Abschnitten Thema war. Hier hatten wir festgestellt, dass sich Gerichte punktuell auf bestmögliche Expertise aus der Umwelt verlassen. Darüberhinausgehende Nachforschungen finden nicht statt, z.B.: Prognosen, wie sich ein Urteil auf die Wirtschaft auswirken könnte. Zu der Übersteigerung der damaligen Diskussion gehörte es, das Recht zu verdächtigen, es wäre selbst ein Interesse. Demnach gäbe es Interessenten – und nicht Interessierte? Letztlich scheiterten beide Theorien an den absurden Fragestellungen, die sie provozierten. Die Funktion des Rechts für die Gesellschaft erscheint umso mehr als offene Frage. Im folgenden Abschnitt rekonstruiert Luhmann darum – auf erhöhtem Abstraktionsniveau und mit eigenem Begriffsapparat –, welches zugrunde liegende Problem die Theoriestreitigkeiten offenbaren.

    86. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 377, K08

    Play Episode Listen Later Jan 15, 2025 100:00


    Über den historischen Argumentationsprozess, der den Sinngehalt von Begriffen abschleift, und die Funktion der Rechtsdogmatik für das Rechtssystem. Juristische Argumentation interpretiert geltendes Recht und versucht, ihre Auslegung von ausgewählten Begriffen überzeugend zu begründen. Aus den Begriffen selbst lässt sich die Begründung jedoch nicht ableiten. Der Sinn des Begriffs – worauf verweist er? – wird erst im Argumentationsprozess ausgelotet. Dies geschieht, indem verschiedene Auslegungsmöglichkeiten erörtert werden. Dabei wird der Begriff auf der Wenn-Seite von Konditionalprogrammen eingesetzt, und es werden die Dann-Folgen eingeschätzt, also die Konsequenzen dieser Auslegung. Erst aus diesem Prozess ergibt sich die Begründung. Auf diese Weise werden sukzessive Unterscheidungen unterschieden. In Zukunft kann man sich darauf zurückbeziehen, welche Auslegungen sich bewährt/nicht bewährt haben. Der Vorrat an Auslegungsmöglichkeiten wächst. Bei späterem Zugriff muss man nicht mehr die gesamte Entstehungsgeschichte rekapitulieren. Es reicht, sich auf ihr Resultat zu beziehen. Kurz, Begriffe ermöglichen einen wahlfreien Zugriff auf bereits bewährte Unterscheidungen. Argumentationsprozesse organisieren emergente Unterscheidungen. Emergenz bedeutet: Die Verknüpfung von Elementen erzeugt mehr als die Summe ihrer Teile. Durch die Verknüpfung entsteht etwas Neues, nicht Vorhersehbares. Auf Recht bezogen heißt das: Immer mehr Wenn-Bedingungen können mit immer mehr Dann-Folgen kombiniert werden. Begriffe speichern also Unterscheidungen ab, die zu ihrer Auslegung geführt haben. Diskutierte Unterscheidungen enthalten Informationen und ermöglichen Redundanz, im Sinne einer schnellen, wenig erläuterungsbedürftigen Bezugnahme. Abgeschliffene Rechtsbegriffe weichen zwangsläufig immer mehr vom Alltagsbegriffsverständnis ab. Begriffe sind historische Artefakte. Der Argumentationsprozess kondensiert (verdichtet) und konfirmiert (bestätigt) ihren Sinngehalt. Wie das Verständnis eines Begriffs über einen oft langen Zeitraum herangereift ist, wird im aktuellen Gebrauch jedoch nicht miterinnert. Namen deuten den Reifeprozess an. Etwa: ratio decidendi (rationale Entscheidung). Die Historie ist darin gespeichert und kann wieder thematisiert werden. Argumentation mit Begriffen ist entsprechend historisch, ebenso die Jurisprudenz als Lehre vom geltenden Recht. Geschichtlichkeit bedeutet auch: Begriffe beruhen weder auf einem „Prinzip“, noch bilden sie ein „System“. Sie sind keine autopoietisch geschlossenen Systeme, wie soziale, psychische oder Zellsysteme. Ihren Sinn bestimmen Argumentationsprozesse. Neue Begriffe erzeugen neue Problemkreise. Das reichert den Sinnhorizont des Begriffs abermals an. Z.B. wirft der Begriff „Delegation“ Fragen auf, wie: Darf ein Delegierter von Befugnissen seine Befugnisse weiterdelegieren? Das Recht müsste dann generell festlegen, wie diese Frage zu bewerten ist. Man sieht, Begriffe entwickeln ein „Eigenleben“: Sie können multilaterale Denkschulen entfalten, Emergenz produzieren. Wenn ein spezifischer Auslegungsstrang später nicht mehr mitgemeint sein soll, braucht es einen weiteren Begriff, der dieses Nicht-Mitmeinen zum Ausdruck bringt und sich davon abgrenzt. Eine „Definition“ von Begriffen anhand von „Merkmalen“ ist nach heutigem Wissensstand nicht mehr sinnvoll. Auch ist es keine Frage mehr, was die „Quelle“ des Rechts wäre. Sämtliches Recht ist positiv, das Resultat von Kommunikationen. In welchem Verhältnis stehen Begriffe und Rechtsdogmatik? Unter Dogmatik versteht Luhmann die Notwendigkeit, mit Begriffen argumentieren zu müssen. Damit Begriffe jedoch nicht endlos „hinterfragt“ werden können, hat das Rechtssystem „Stoppregeln“ eingebaut. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    85. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 377, K08

    Play Episode Listen Later Dec 14, 2024 79:33


    Eine Letztbegründung von Gründen mit „Gott“ wäre im positiven Recht der Moderne nicht mehr zulässig. Wie werden Argumente stattdessen begründet? Luhmann hebt die Beurteilung der Folgen von Rechtsentscheidungen hervor. Im alteuropäischen Recht der Vormoderne konnte man sich bei der Interpretation von Texten noch auf Gott berufen. Gottes Wille äußerte sich in der Natur. Der menschlichen Natur ließ sich Vernunft zuschreiben, die es dem „Subjekt“ ermöglichte, „objektive“ Erkenntnis zu gewinnen. Mit solchen Begründungsbegriffen ließ sich „gut“ argumentieren: Sie stützten sich gegenseitig. Gott war Ursprung und Letztbegründung zugleich. Mit der Säkularisierung brauchte es Ersatz. Das positive Recht der Moderne ist „menschgemacht“ und entsteht durch Kommunikation – die immer kontingent ist. Welche Vorgehensweise bei der Suche nach „guten“ Begründungen finden wir heute vor? Die Theorie sozialer Systeme nennt hier die Beurteilung der Folgen einzelner Rechtsentscheidungen. Folgeneinschätzung ist zum Standard in der Argumentation geworden. Die Interpretation legt verschiedene Szenarien zugrunde und schätzt jeweils ein: Welche Folgen könnten sich ergeben, je nachdem, welche Regel man zugrunde legt? Bereits im Naturrecht war es üblich gewesen, Folgen abzuschätzen. Das Prinzip der Billigkeit diente dazu, die Angemessenheit möglicher Folgen zu beurteilen. Heute hat sich die Kontrolle des Rechts anhand der Einschätzung von erwünschten/unerwünschten Folgen als einzig überzeugendes Prinzip in Rechtstheorie und Praxis durchgesetzt. Die Vorgehensweise gilt als allgemein akzeptiert. Die Theorie sozialer Systeme hinterfragt diese Operationsweise jedoch tiefer: Was beobachten wir (die Soziologie), wenn wir diese Vorgehensweise beobachten? Verlangt wird also eine Beobachtung zweiter Ordnung. Wir beobachten, wie Beobachter beobachten. Aus dieser Perspektive können wir zunächst etwas ausschließen: Nicht beobachtbar ist, dass das Recht mithilfe der Beurteilung etwaiger Folgen von Rechtsentscheidungen einen Zweck verfolgen würde. Zweckprogramme wendet die Politik an: Um ein Ziel zu erreichen, wird ein Gesetz beschlossen. Auch die Politik schätzt ein, welche Folgen das Gesetz haben könnte: Vor allem „Risiken“ (eine Unter-Unterscheidung von Gefahr) werden eingeschätzt. Im Recht wird jedoch nicht mit „Um zu“-Begründungen argumentiert. Stattdessen arbeitet die rechtliche Argumentation mit Konditionalprogrammen, mit Wenn-dann-Bedingungen. Folgeneinschätzung in Recht und Politik sind nicht dasselbe. Für das Recht geht es nur um systeminterne Folgen. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die Anwendung einer Regel auf zukünftige Entscheidungen auswirken könnte. Dabei müssen zwar auch verschiedene Möglichkeiten des Verhaltens in der Umwelt konstruiert und Annahmen „durchgespielt“ werden. Dies geschieht jedoch nur, um systeminterne Konsequenzen einzuschätzen. Eine in der Politik typische Prognose, wie die Umwelt reagieren könnte, z.B. KonsumentInnen, braucht es dagegen nicht. Die Beurteilung etwaiger Rechtsfolgen dient nur der internen Konsistenzpflege. Die Einschätzung bereichert den Vorrat an Redundanzen, auf die man sich zukünftig argumentativ beziehen kann. Welchen Unterschied es macht, ob das Recht nur systeminterne oder auch die Umwelt betreffende Folgen ins Kalkül zieht, wird leicht übersehen. Die Frage ist, ob es auf Dauer möglich sein wird, sich als operativ geschlossenes Rechtssystem gegenüber den externen Folgen der Rechtsprechung zu verschließen. (Z.B.: Folgen für den Klimaschutz.) In dieser Frage blitzt der politische Begriff des Interesses auf. Rechtsprechung hat Konsequenzen für die davon potenziell Betroffenen. Bei der Lebensrettung kann man ein Interesse des Retters unterstellen, für etwaige Schäden durch seine Hilfsaktion entschädigt zu werden. Andernfalls könnte das Risiko für ihn zu hoch sein, im Notfall zu helfen – könnte man unterstellen. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    84. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 372, K08

    Play Episode Listen Later Oct 22, 2024 95:25


    Gründe sind ausgewählte Unterscheidungen, die bei der Interpretation eines Rechtstextes in der juristischen Argumentation angeführt werden. Um im Recht als „guter“ Grund anerkannt zu werden, muss die Begründung zudem zeigen, dass sie konsistent mit geltendem Recht ist. Aber welche Funktion erfüllt das Argumentieren überhaupt? Wozu braucht es Begründungen? Gehen wir vom Anspruch des Rechtssystems aus, alleinzuständig für die Produktion von geltendem Recht zu sein. Rechtsgeltung ist das Symbol des Systems. Allerdings ist Rechtsgeltung eine Tautologie: Das Recht gilt, weil das Recht besagt, dass die Geltung rechtens ist. Gründe verhüllen diese Tautologie. Mit „guten“ Gründen (geprüft, konsistent, rechtlich anerkannt) begründet das Recht, warum welches Recht gilt. Abstrakter formuliert, erklärt die Theorie sozialer Systeme die Funktion des Begründens in der Argumentation mit der Unterscheidung von Redundanz und Varietät. Begründungen symbolisieren Redundanz. Bei der Interpretation eines Rechtstextes wendet der Interpret die leitenden Systemunterscheidungen – Recht/Unrecht, gleicher/ungleicher Fall – auf jede einzelne Überlegung an. Dabei muss er beweisen, dass seine ausgewählten Unterscheidungen konsistent mit geltendem Recht sind. Varietät entsteht dabei von selbst: sobald der Fall ungleich ist. Dann muss er auch ungleich behandelt werden. Die Argumentation jongliert also mit Redundanz und Varietät. Beide sind Variable. Redundanz liegt vor, wenn eine Begründung dafür plädiert, die Eigenartigkeit des Falls einem schon vorhandenen Falltypus zuzuordnen und dafür bewährte Entscheidungsprogramme und Regeln anzuwenden. Mit Varietät wird sparsam umgegangen. Denn jeder Fall gebärdet sich natürlich als einzigartig. Durch den permanenten Check von Gleichheit/Ungleichheit des Falls verhindert die Argumentation jedoch, immer dieselben Redundanzen anwenden zu können. In dieser Operationsweise kann man auch eine Selbstbeschreibung des Systems erkennen: Das Rechtssystem produziert „Gerechtigkeit“ in einem systemspezifischen Sinne. Es bezieht sich permanent auf geltendes Recht (Redundanz) und variiert in ungleichen Fällen. Gerechtigkeit ist dabei kein Argument an sich. Die Theorie sozialer Systeme weist also auf die Ebene der Beobachtung dritter Ordnung hin. Von dieser Warte aus kann man ein Unterscheidungsschema mitten im Begründen erkennen. Durch die Unterscheidung von Redundanz/Varietät handhabt das System die Tautologie der Rechtsgeltung in der Praxis. Durch diese Vorgehensweise verschafft es sich soziale Akzeptanz, kontrolliert sich selbst, schützt sich selbst vor Überlastung und bleibt lernfähig.

    83. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 362, K08

    Play Episode Listen Later Oct 4, 2024 128:15


    Redundanz bedeutet im Rechtssystem: Um eine neue Information einzuordnen, bezieht man sich auf schon vorliegende Informationen. Diese sind schriftlich in Texten fixiert und schränken den Auswahlbereich dessen, was daran angeschlossen werden kann, ein. Doch der Text muss ja noch interpretiert und in Bezug zum aktuellen Fall gesetzt werden. Und wer interpretiert, muss antizipieren, ob die Auslegung auch für andere Kommunikationsteilnehmer überzeugend sein wird. Interpretation ist damit ein soziales Verhalten. Ausgewählt werden Unterscheidungen, die auch für andere Kommunikationsteilnehmer überzeugend sein sollen. Wie andere Teilnehmer dann tatsächlich daran anknüpfen, ist nicht zweifelsfrei vorhersehbar. Das heißt: Solange die Diskussion darum kreist, wie ein Text zu interpretieren ist, konstituiert der Text für die Beteiligten ein soziales Medium. Jeder Sachverhalt, der entschieden wird, bildet eine Kommunikationsepisode. Dabei ist die Auswahl der Begriffe, mit denen ein Argument begründet wird, kontingent. Das heißt: Es könnte auch anders ausgewählt werden. Hermeneutik, Dialektik und Rhetorik gingen noch davon aus, ein „Subjekt“ könne „objektiv“ die „Wahrheit“ erkennen. Die Theorie sozialer Systeme geht jedoch davon aus, dass jede Beobachtung eine Konstruktion eines Beobachters ist. Sie kann nur mit Begriffen geschildert wird, deren Auswahl kontingent ist. Eine Besonderheit des Rechts besteht darin, dass jeder Fall entschieden werden muss (Justizverweigerungsverbot). Darum ist auch die Argumentation entscheidungsgetrieben. Sie bezieht sich laufend auf Entscheidungen anderer. Man orientiert sich an der im Fachgebiet „vorherrschenden Meinung“, verfolgt Entscheidungen anderer Gerichte und beurteilt Präzedenzentscheidungen entlang der Frage, welche Entscheidungsregeln ihnen zugrunde gelegt wurden. Je nachdem, ob der Sachverhalt im aktuellen Fall gleich/ungleich ist, ist dann zu entscheiden, ob dieselbe Regel wieder anwendbar ist oder nicht. Immer geht es darum, einerseits universelle Entscheidungsgründe zu finden, die künftig auf gleiche Fälle desselben Typs angewendet werden können. Und andererseits spezifische Entscheidungsgründe, die sich aus der Besonderheit des Falls ergeben. Die Argumentation bereitet die finale Entscheidung dabei „nur“ vor. Sie selbst produziert noch kein geltendes Recht. Ihre Funktion ist es, den Auswahlbereich von final zu treffenden Entscheidungen einzuschränken. Wir finden also eine Doppelstruktur vor: geltende Texte und argumentative Begründungen. Die Argumentation bezieht sich redundant auf normativ anzuwendende Regeln und Prinzipien. Sie selbst ist aber kein normativer Prozess. Im Gegenteil. Nur wenn die Argumentation auch Enttäuschungen produziert, aus denen sich etwas lernen lässt, können normative Regeln und Prinzipien formuliert werden, auf die sich zukünftige Argumentationen beziehen können. Erst auf diese Weise entsteht eine Rechtsdogmatik, die sich selbst als Rechtsquelle behandeln kann. Gründe werden bei der Interpretation als „gute“ Gründe dargestellt. Es wird so logisch und so „objektiv“ wie möglich begründet. Im Ergebnis erscheint Argumentation als Kondensat aus geprüften „guten“ Gründen – eben als das, was man „Institution“ nennen kann. Die Theorie sozialer Systeme weist jedoch darauf hin, dass es keine Letztbegründung für Gründe geben kann. Auch die Vernunft kann sich nur mit sich selbst begründen (Tautologie). Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    82. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 356, K08

    Play Episode Listen Later Sep 8, 2024 74:30


    Redundanz und Varietät sind zwei sich gegenseitig steigernde Bedingungen der Möglichkeit juristischer Argumentation. Insbesondere durch sequenzierte Konditionalprogramme erhöht das Rechtssystem seine Varietät. Gerechtigkeit bedeutet im Rechtssystem konsistentes Entscheiden. Konsistenz wiederum wird in der juristischen Argumentation durch Redundanz gewährleistet. Sie sorgt dafür, dass jede einzelne Entscheidung im Verlauf des Kommunikationsprozesses konsistent ist. Mangelnde Konsistenz kann als Fehler bemängelt werden. Auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung scheint es nur um dieses Erkennen von Fehlern zu gehen. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung lässt sich jedoch erkennen: Dieser Operationsmodus, die Art und Weise, wie die rechtliche Kommunikation voran prozessiert, ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Gesellschaft ihr Rechtssystem als autonomes Kommunikationssystem anerkennt. Denn Redundanz schränkt die Möglichkeiten funktional ein, mit denen an den Neuigkeitsgehalt einer Information angeschlossen werden kann. Zugleich zwingt sie dazu, ungleiche Fälle als ungleich zu markieren und die Varietät zu steigern. Varietät heißt: Das System ist in der Lage, viele verschiedenartige Fälle zu bearbeiten. Die Begriffe Information, Redundanz und Varietät hängen wie folgt zusammen: Redundanz ist diejenige Information, die man schon hat, um eine neue Information zuordnen zu können. Varietät ist die Information, die einem dazu noch fehlt. Sie muss erst ermittelt werden. Das heißt, von einem vorliegenden Fall aus der Vergangenheit muss mithilfe von Redundanzen auf den aktuellen Fall geschlossen werden. Ist er ungleich, ist Varietät notwendig. Redundanzen haben unterschiedliche Qualitäten. Manche Formen sind mit mehr Varietät kompatibel als andere. Luhmann hebt sequenzierte Konditionalprogrammen hervor: Durch Wenn-dann-Programme lassen sich mehrere Bedingungen miteinander vernetzen. Wenn A und B und C gegeben sind, dann… Diese Bedingungen müssen alle gleichzeitig gegeben sein. Sie sind nicht hierarchisch, sondern heterarchisch miteinander vernetzt. Je mehr Bedingungen eingezogen sind, desto mehr Anschlussmöglichkeiten ergeben sich logisch daraus. Kurz: Durch sequenzierte Konditionalprogramme steigert das System seine Varietät. Beschreiben lässt sich ein solcher Operationstypus auch mit anderen Begriffen. Man kann auch sagen: Das Rechtssystem legt Falltypen fest und schließt von einem Typus auf einen anderen. Oder: Es legt Rechtsinstitute fest und organisiert seine Vorgehensweise über Prinzipien. In jedem Fall lässt sich erkennen: In Form von Wenn-dann-Programmen legt das Recht Bedingungszusammenhänge fest. Ein in einem Institut entwickeltes Programm gilt dann aber nicht „automatisch“ für alle anderen Institute oder Fälle. Was verschiedene Rechtsgebiete entwickeln, ist nur lose miteinander gekoppelt („loose coupling“), nicht strikt. Varietät und Redundanz steigern sich gegenseitig. Durch mehr Redundanz lässt sich mehr Varietät herauskitzeln. Und mehr Varietät steigert – wie nebenbei – die Anzahl zukünftiger Redundanzen. Jede Variation eines Sachverhalts macht es erforderlich, neue Regeln zu bilden, um die Abweichung zu managen. Die neue Regel schafft dann wiederum neue Anschlussmöglichkeiten für zukünftige Fälle und zukünftige Abweichungen. Man landet beim Evolutionsbegriff: Evolution ist der Prozess aus Variation, Selektion und Restabilisierung. In der Kommunikation heißt das: Jede einmal akzeptierte Variation bietet neue Anschlussmöglichkeiten für weitere Variationen. Die Evolution verläuft zirkulär. Variationen ermutigen dazu, Variationen zu wagen. Auf diese Weise kann das Recht auch auf veränderte Erwartungen aus der Umwelt reagieren, z.B. im Klimaschutz. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    81. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 352, K08

    Play Episode Listen Later Jul 12, 2024 95:28


    Die Bedingungen der Möglichkeit juristischen Argumentierens bestehen aus einer Kombination von Institutionalisierung und Redundanz. Was bedeutet das? Wenn man fragt, welche evolutionären Entwicklungen vorausgehen müssen, damit sich juristische Argumentation entfalten kann, bieten sich zwei Voraussetzungen an. Die erste besteht darin, dass sich die Rechtskommunikation institutionalisiert. Dies schränkt den Auswahlbereich möglicher Kommunikationen ein. Die zweite Voraussetzung ist, dass innerhalb dieses Rechtsinstituts normativ Redundanz angewendet wird. Redundanz erfüllt die Funktion, diejenigen Informationen auszuwählen, die rechtsrelevant sind. Um zu beobachten, wie das Rechtssystem in der Argumentation seine Selbstreproduktion vollzieht, unterscheidet Luhmann Information von Redundanz. Eine Information ist der Überraschungswert einer Nachricht, der Neuigkeitswert. Redundanz schränkt nun die Anschlussmöglichkeiten ein. Sie selbst ist keine Information, sie enthält nichts, was nicht schon bekannt wäre. Stattdessen verweist sie darauf, dass die Information in der institutionell vorgeschriebenen Weise überprüft werden muss, inwiefern sie für die Entscheidungsfindung relevant ist. Soziale Systeme benutzen immer beide Operationsweisen. Während Informationen neue Anschlussmöglichkeiten generieren, schränkt das laufende Bewusstmachen von Redundanz die Anschlussmöglichkeiten ein. Die Kommunikation muss stets sowohl auf das Neue (die Information) als auch auf das Redundante Bezug nehmen. Redundanz ermöglicht Indifferenz in der Kommunikation. Ein vager Hinweis reicht. Weder ist es nötig zu erörtern, was der Hinweis für alle anderen Operationen des Systems bedeutet, noch für die Umwelt, z.B. für die Wirtschaft. Rein sprachlich findet sich im Recht zwar ein hohes Maß an Redundanz: Viele Formeln und Sprüche eignen sich dafür, in diversen Situationen angewendet zu werden. Da jedoch viele Rechtsbegriffe unspezifisch sind, ist das eher Rhetorik. Im konkreten Fall muss semantisch präzisiert werden, was Redundanz in Bezug auf eine Information bedeutet. Das macht Arbeit und kostet Zeit. Es ist darum im „Interesse“ des Systems, sich nicht selbst mit zu vielen Informationen zu überlasten. Neben dieser Funktion, das System vor Überlastung zu schützen, dient Redundanz dazu, Fehler zu erkennen und zu vermeiden. Je mehr Informationen ein komplexes System wie das Recht verarbeitet, desto mehr Redundanzen braucht es auch, um sich selbst überprüfen zu können, ob es fehlerfrei arbeitet. Oder zumindest: einen Weg zu finden, wie es mit eigenen Fehlern in einer legitim erscheinenden Weise umgehen kann. Ein hoher Redundanzwert führt dazu, dass das System lernt, mehr verschiedenartige Operationen durchzuführen. Es erhöht seine Varietät, indem es mehr Differenzen herausschält. So gesehen, produzieren Redundanzen dann auch Informationen – aber nur intern für das System. Redundanzen dienen also zunächst dazu, Komplexität zu reduzieren, um dann von dieser Basis aus wiederum die Systemkomplexität zu steigern. Die meisten Kommunikationen aus der Umwelt des Rechtssystems haben für das System keinen Informationswert. Durch Redundanzen filtert das System, was rechtsrelevant ist und was nicht. Es kann allen irrelevanten Informationen gegenüber indifferent bleiben. Umweltgeräusche (noise) können auf diese Weise abgewehrt werden. Aber auch systemintern dienen Redundanzen dazu, Operationen entweder zu verknüpfen oder umgekehrt, keinen Zusammenhang herzustellen. Auf diese Weise managt das System Komplexität. Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    80. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 348, K08

    Play Episode Listen Later Apr 18, 2024 77:58


    Wie die Theorie sozialer Systeme „juristische Argumentation“ definiert Herkömmliche Argumentationstheorien gingen von einem essentialistischen Weltbild der Vormoderne aus und definierten juristische Argumentation als überzeugendes Begründen. Für Begründungen gibt es jedoch keine Letztbegründung. Man landet unweigerlich bei der Autologie der „Vernunft“. Darum schlägt Luhmann eine Neudefinition vor. Diese orientiert sich strikt an der Kommunikation, die man im Rechtssystem vorfindet. Wie jede Kommunikation, verläuft auch juristisches Argumentieren nach dem Evolutionsschema Variation – Selektion – Restabilisierung. Dasselbe gilt für das Begründen. Immer handelt es sich um begriffliche Unterscheidungen, die selektiert werden (und darum kontingent sind). Juristische Argumentation ist demnach eine Kombination von je einer Seite dreier Unterscheidungen: Operation/Beobachtung, Fremd-/Selbstbeobachtung und strittig/unstrittig. Zunächst kritisiert Luhmann, dass herkömmliche Argumentationstheorien auf antiken und vormodernen Denkweisen beruhen. Diese sind geprägt durch die Begriffe Topik, Rhetorik, Dialektik und Hermeneutik. Gemeinsam ist ihnen ein essentialistisches Weltbild. Sie setzen ein menschliches Subjekt voraus, welches die „Essenz“ der Dinge (das „Wesen“ des Objekts) zweifelsfrei erkennen könnte. In dieser Vorstellung dient Argumentation dem Finden einer quasi einzig gültigen Wahrheit. Topoi (der Plural von Topik) sind Sprachbilder, die man heutzutage wohl am ehesten als Frames (Rahmen) bezeichnen würde. Etwa: eine Metapher, eine Verkettung von zwei Begriffen zu einem neuen Begriff (z.B.: Klima-Krise) oder eine Redewendung. Ein Frame legt unausgesprochen mehrere Eigenschaften, Bewertungen und Entscheidungen gleichzeitig nahe. Auf diese Weise liefert er, bewusst oder unbewusst, Informationen, aus denen man Argumente schöpfen kann. Z.B. legt der Begriff Terroranschlag mehrere Vorstellungen gleichzeitig nahe: Ereignisablauf, Opfer, Täter, Ursache, Folgen. Jede Einzelannahme kann unterschiedlich stark/schwach vorgeprägt sein. In einem Frame werden also diverse Denkschemata zu einem gemeinsamen Sinnhorizont verknüpft. Ein anderes Beispiel ist die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith (1776). Dieses Sprachbild prägte die Vorstellung, wie Preise zustande kommen. Letztlich ist die Topik ein Fachbegriff der Rhetorik: Es geht darum, andere zu überzeugen. Die Semantik, die pure Wortwahl legt bestimmte Deutungen nahe. Rhetorik ist die sprachliche Kunstfertigkeit, so zu argumentieren, dass die Darstellung plausibel erscheint und beklatscht werden kann (lat.: applaudere). Zu diesem Zweck werden Ursachen und Wirkungen selektiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Schon Platon kritisierte, dass die Rhetorik weniger der Findung der „Wahrheit“ und mehr der Täuschung diene. Durch wohlfeiles Reden würde der Gesprächspartner regelrecht überredet. Auch die Dialektik (altgriechisch: Kunst der Unterredung, im Dialog) ging davon aus, dass eine argumentative Form der Gesprächsführung zur „Wahrheitsfindung“ führen würde. Im Gegensatz zur Rhetorik handelt es sich jedoch um eine methodische Anleitung zur Argumentation. Einer These wird eine Antithese gegenübergestellt und aus dem Widerspruch eine Synthese abgeleitet, die diesen Widerspruch „aufzuheben“ scheint. Bei Hegel vereinte sich der Widerspruch zwischen zwei Gegensätzen zu einem höheren Dritten. Marx nahm an, historisch würden sich logisch die „besseren“ Verhältnisse durchsetzen. Hermeneutik wiederum ist die Lehre von der Interpretation der Zeichen. Ihren Namen verdankt sie Hermes, dem Götterboten. Beim Orakel von Delphi ging es darum, mystische Zeichen zu deuten. Die hermeneutische Kunst sollte die Sprache der Götter erhellen und Weissagung (Devination) ermöglichen. Davon hingen Entscheidungen ab! Vollständiger Text auf www.luhmaniac.de

    79. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 343, K08

    Play Episode Listen Later Mar 17, 2024 81:00


    Juristische Argumentationstheorie setzt auf Begründungen. Doch was ist ein Grund? Luhmann kritisiert, dass der Begriff allein nichts besagt. Eine Begründung ergibt erst Sinn, wenn sie auf ausgewählte Unterscheidungen verweist. Die Kontingenz dieser Auswahl macht die Theorie sich nicht ausreichend bewusst. Was ist ein Grund? Den Grund an sich gibt es nicht. Das sieht man schon daran, dass es keinen Gegenbegriff gibt, keinen „Ungrund“ oder „Nichtgrund“. Der Begriff ist keine Zweiseitenform. Wer begründet, muss deshalb auf begriffliche Unterscheidungen verweisen, die selektiert werden. Wie bei jeder Auswahl, könnten auch andere Unterscheidungen ausgewählt werden. Damit sind Begründungen kontingent. Man kann immer weiter fragen, womit die Begründung begründet wird. Eine Letztbegründung gibt es nicht. Auch die „Vernunft“ hilft nicht weiter, sie begründet sich selbst mit sich selbst, ist also autologisch. Begründungen sind also eine Paradoxie. Sie begründen sich mit Gründen, die sich nicht endgültig begründen lassen. Um diese Paradoxie im Alltag zu managen (das heißt: zu invisibilisieren!), behilft sich die juristische Argumentation mit einer Ersatzunterscheidung: Man unterscheidet gute und schlechte Begründungen. Diese Ersatzunterscheidung ist sowohl praktisch wie auch theoretisch handhabbar. Man stellt Kriterien auf, was eine gute/schlechte Begründung ausmacht. Diese Kriterien sind jedoch ebenfalls kontingent. Zwangsläufig sind sie das Ergebnis einer weiteren Selektion, die anders hätte ausfallen können. Man kann die Auswahl nur wieder gut oder schlecht begründen. Der Kontingenz aber entkommt man nicht. Die Erkenntnis, dass Begründungen kontingent sind, weil sie auf ausgewählte Unterscheidungen zurückgehen, gehört für Luhmann zu den Errungenschaften des „modernen“ Denkens. Im Gegensatz dazu war die Vormoderne davon ausgegangen, es gäbe „objektive“ Wahrheiten, die ein „Subjekt“ nur erkennen müsse. Zum neuzeitlichen Denken gehört es auch, das Recht als operativ geschlossenes, autonomes Funktionssystem zu sehen, das Autopoiesis betreibt. Das heißt, das Rechtssystem produziert alle Rechtskommunikationen selbst. Dies geschieht, indem es permanent auf sich selbst verweist – auf andere Rechtskommunikationen des Systems. Diese Selbstreferenzialität des Rechtssystems wurde in der Theorie der begründenden Argumentation kaum berücksichtigt. Anstatt sich auf konkrete Argumentationsweisen in der Praxis zu beziehen, verlegte sie sich auf Verfahrensprinzipien. Diese werden auch unter dem Begriff Prozeduralisierung diskutiert. (Siehe Anmerkung am Textende.) Luhmann kritisiert, dass diese Theorien jedoch vor allem eigene Argumentationsweisen für bestimmte Verfahren empfehlen würden, ohne viel Rücksicht darauf, wie JuristInnen tatsächlich argumentieren. Teils handele es sich um verkappte Verhaltensvorschriften, die gar nicht umsetzbar sind, z.B. die Vorgabe, „alle Umstände der Situation“ zu berücksichtigen. An der juristischen Argumentation selbst, stellt Luhmann fest, gleiten solche Theorien ab. In der Praxis lebt die Argumentation von der Verschiedenartigkeit der Fälle. Damit erreicht sie eine hohe Spezifität, die sich nicht in allgemeine „Prinzipien“ auflösen lässt. Begründungen verweisen auf Rechtsbegriffe wie „Schuld“ oder „Haftung“. Ohne Referenz auf einen konkreten Fall wären solche Begriffe jedoch gar nicht verwendbar. Sie dienen nur als Keywords, die einen Analogieschluss zulassen. Auf diese Weise können Fallerfahrungen bewahrt, bestätigt und auf neue Sachverhalte ausgedehnt werden. Kurz, juristische Argumentation ist nicht aus Vernunftprinzipien ableitbar. Sie kann sich nicht auf ein Denkpotential berufen, das allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stünde. Sondern nur auf ihr eigenes: Argumentiert wird professionell, auf Basis einer Systemrationalität, die die rechtliche Kommunikation selbst festlegt. Vollständiger Text: luhmaniac.de

    78. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 338, K08

    Play Episode Listen Later Feb 14, 2024 83:54


    Zum Auftakt weist Luhmann darauf hin, was Argumentation im Rechtssystem nicht vermag: Argumente können geltendes Recht nicht ändern. Im Gegensatz dazu schränkt das geltende Recht die Möglichkeiten ein, wie argumentiert werden kann. Zum Beispiel: nicht mit Moral. Durch Texte sind verschriftlichtes Recht und mündliche Argumentation strukturell gekoppelt. Das heißt, Argumente müssen den vorliegenden Fall in Bezug setzen zum geltenden Recht und dieses interpretieren. Zum Beispiel muss ein Gesetzestext auf die Frage hin interpretiert werden, ob ein gleicher Fall vorliegt oder nicht. An welchen Begriff jedoch dabei angeknüpft wird, ob und wie oft eine Textstelle zitiert wird – all das war offen, als der ursprüngliche Text des geltenden Rechts entstand. Das heißt, Texte halten im Rechtssystem Strukturen fest, die jederzeit reproduziert werden können. Wann und wie diese Strukturen dann aber tatsächlich reproduziert werden, das geben sie nicht vor. Texte sind invariabel, sie existieren in einer Simultanpräsenz, alle gleichzeitig. Mündliche Kommunikation erfolgt dagegen in einer Sukzessionspräsenz. Man greift einzelne Aspekte aus dem Text heraus, an die unmittelbar angeschlossen werden kann. Hier ist Variation möglich, durch andere Begrifflichkeiten, neuartige Auslegung. Texte haben darum eine herausragende Bedeutung für das Rechtssystem: Gesetzestexte, Gesetzeskommentare, Gerichtsentscheidungen u.a. Dokumente ermöglichen eine vereinfachte Selbstbeobachtung. Zentral ist dabei die fachliche Fähigkeit von JuristInnen, diejenigen Textstellen überhaupt zu finden, die bei der Entscheidungsfindung relevant werden könnten. Einschlägige Textstellen zu finden und zu interpretieren, kann dabei zunächst auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung durchgeführt werden. Interpretation ist jedoch weit mehr als die bloße Verdeutlichung des Originaltextes in eigenen Worten. Faktisch entsteht dabei ein neuer Text auf Basis des alten. Und das Original dient darin nur noch als Referenz. Die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung wird JuristInnen abverlangt, sobald sie mit der Interpretation auch argumentieren müssen. Denn die Frage ist ja schon beim Lesen der Rechtstexte: Wie könnte man die eigene Auslegung in der Kommunikation handhaben? Sobald Zweifel auftauchen, ob der Text so oder so ausgelegt werden könnte, gilt es, mehrere Auslegungswege zu durchdenken. Dabei geht es darum, die dem ursprünglichen Text zugrunde liegende Entscheidungsregel zu finden und diese zu begründen. Der Anlass kann sein, dass die bisherige Auslegungsart zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt hat. Das heißt, dass auch schon bei der Interpretation von Texten Beobachtung zweiter Ordnung möglich ist. Das beginnt mit der Frage, welche „ursprüngliche Intention“ der Text gehabt haben könnte. Dem Rechtstext muss dabei eine Rationalität unterstellt werden, die von der Rationalität und von der Intention der Institution abgeleitet wird, die ihn geschaffen hat. Etwa: der Gesetzgeber. Die herkömmliche, begründende Argumentationstheorie orientierte sich an der Frage, ob ein Argument akzeptiert oder abgelehnt wird. Denn das ist evaluierbar. Dabei geht man davon aus, das Recht würde sich anhand von zwei primären Unterscheidungen selbst beobachten: Wie lassen sich anhand von Rechtstexten sichere Gründe für Argumente anführen? Wie lassen sich Argumente durch das Auffinden von Fehlern bei der Auslegung entkräften? „Fehler“ und „Gründe“ sind jedoch kein Gegensatz. Es ergibt keinen Sinn, das eine vom anderen zu „unterscheiden“. Beide Vorgehensweisen haben eine je eigene Funktion. Die Suche nach „Fehlern“ dient der Logiküberprüfung. Anhand der Fehlerfrage kann man unterscheiden: Ist die Argumentation und deren Prämissen logisch fehlerfrei oder fehlerhaft? Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    77. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 333, K07

    Play Episode Listen Later Jan 14, 2024 76:29


    Letzter Abschnitt über die Stellung der Gerichte im Rechtssystem: In einem primär funktional ausdifferenzierten System können auch andere Differenzierungsformen fortbestehen oder sich bilden. So gibt es in Politik, Wirtschaft und Recht je ein Entscheidungszentrum aus Staat, Banken und Gerichten. Nur in diesen Zentren finden wir noch eine weitere Ausdifferenzierung durch Hierarchie vor. In der Peripherie gibt es diese Hierarchie nicht. Die moderne Gesellschaft ist primär funktional differenziert: Globale Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht erfüllen als jeweils autonome Kommunikationssysteme unverzichtbare Funktionen für die Gesellschaft. Neben dieser dominanten Differenzierungsform können andere Formen gleichzeitig bestehen. Im Rechtssystem finden wir eine Differenzierung von Zentrum/Peripherie vor. Gerichte haben dort das Entscheidungszentrum gebildet. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass funktionale Differenzierung, wenn sie einmal bestimmend ist, auch andere Differenzierungsformen zu neuer Blüte bringen kann. Diese Annahme überprüft Luhmann, indem er analysiert, welche Differenzierungsformen wir in Wirtschaft und Politik vorfinden, also: über die primär funktionale Differenzierung hinaus. In der Wirtschaft stoßen wir auf ähnliche Strukturen. So wie Gerichte diverse Paradoxien des Rechtssystems managen (zum Beispiel, dass sie, um Recht zu sprechen, selbst „Richterrecht“ erzeugen), managen Banken Widersprüche des Wirtschaftssystems. Etwa, dass jede Geldzahlung gleichzeitig Zahlungsfähigkeit (beim Empfänger) und Zahlungsunfähigkeit (bei dem, der zahlt) erzeugt. Diese Paradoxie managen Banken, indem sie Zeitdifferenzen gewinnbringend nutzen: Sie vergeben Kredite, die allmählich mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Ebenso bringen Einlagen während der vereinbarten Anlagezeit Zinsgewinne. Allen Geschäften zugrunde liegt ein Zahlungsversprechen. Also ein Risiko, da man nie weiß, ob sich die Erwartung in der unvorhersehbaren Zukunft erfüllen wird. Die Geldtheorie hatte den Faktor Zeit bei der Vermehrung der Geldmenge lange vernachlässigt. Eine weitere Paradoxie, die Banken im Zusammenspiel mit der Zentralbank managen, besteht darin, die Geldmenge im System mal als konstant, mal als variabel zu behandeln. Im Unterschied zu Gerichten sind Banken aber eher Abschluss der funktionalen Ausdifferenzierung der Wirtschaft als System. Depositenbanken etwa, bei denen der Kunde der Bank Kredit gewährt durch Einlagen wie „Termingeld“, sind eine relativ junge Organisationsform. Im Gegensatz dazu markierte die Entstehung von Gerichten den Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Beide Systeme sind in ihrer Selbstreproduktion (Autopoiesis) jedoch gleichermaßen von außen nicht mehr steuerbar; was man besonders an den Finanzmärkten bestaunen kann. Im Wirtschaftssystem bilden Banken das Zentrum. ... (Vollständiger Text auf luhmaniac.de)

    76. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 328, K07

    Play Episode Listen Later Dec 17, 2023 75:37


    In der geschichteten Gesellschaft hatten Adel und Volk nicht die gleichen Rechte. Infolge des Justizverweigerungsverbots entfallen solche gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Rechtsentscheidung. Gerichte ersetzen sie durch Vorgaben, die sie autonom definieren können und die ausschließlich ihrer Funktion dienen: Profession und Organisation. Die „gottgebene“ Schichtung der Ständegesellschaft ist kein Entscheidungskriterium mehr. Das Gericht ersetzt derlei Vorgaben durch selbst bestimmbare Vorgaben: Organisation und Profession werden entscheidend dafür, wer wie unter welchen Bedingungen „Mitglied“ des Gerichtssystems werden kann und wie Entscheidungen herbeizuführen sind. Beide Vorgaben sind funktional orientiert. Sie dienen der Autopoiesis und damit der Autonomie. Das Gerichtssystem organisiert seine Kommunikation selbst – in Form von Behörden, Ausbildungsbedingungen, Kompetenznachweisen, Selbstaufsicht etc. Evolutionär war diese Entwicklung riskant. Immerhin wurde die Rechtsentscheidung von einer Vorgabe abgeschnitten, die jahrtausendelang das Weltbild geprägt hatte. Auch wenn es Kritik gibt, die bezweifelt, dass Gerichte unabhängig vom sozialen Ansehen entscheiden würden – es bleibt die soziologische Frage: Welche sozialen Einrichtungen waren nötig, um eine derartige Autonomie zu behaupten und abzusichern? Als Voraussetzungen kann man feststellen: Profession und Organisation. Aber was bedeutet das? Die Theorie sozialer Systeme bricht diese Begriffe auf die operationale Ebene herunter: Beides sind Operationen, die durch Kommunikation ausgeübt werden. Die Kommunikation ist funktional, sie dient der Grenzziehung zwischen Gerichtssystem und Umwelt. Indem das Gerichtssystem laufend eingrenzt, was professionell/unprofessionell ist, reproduziert es sich selbst. Der Begriff der Autopoiesis wird hierin erneut greifbar: Wie jedes soziale System, reproduziert auch das Gerichtssystem alle Kommunikationen, aus denen es besteht, ausschließlich selbst. Wie man RichterIn werden kann, was als professionell zu gelten hat, all das kann das Gericht selbst definieren und laufend internen Bedürfnissen anpassen. Die gesamtgesellschaftliche Vorgabe der Schichtung wird durch systeminterne Vorgaben ersetzt: Es braucht juristische Kompetenz, um Rechtsentscheidungen zu treffen. Durch Kompetenz wird dann auch die Frage entschieden, welche Organisationen ein Gerichtssystem braucht, welche Rollen es gibt und wie diese Organisationen zu arbeiten haben. Das System reguliert sich selbst und zwingt sich zur Selbstbeobachtung. Es gibt eine Dienstaufsicht. Es definiert, wie viel erledigt werden muss. Es koordiniert zeitliche Abläufe durch Termine. Die Interaktion im Gerichtssaal bedeutet Kommunikation unter Anwesenden und ist durch selbst entworfene Verfahrensregeln festgelegt. Der Umgang mit Fehlern ist systemintern reglementiert. Interne Streitigkeiten werden durch Argumentation gelöst, die wiederum professionell sein muss. Wer welche Positionen, Einkommen und Karrierewege einschlagen kann, wird ebenso durch Kommunikation definiert. Profession ist die Voraussetzung für Organisation. Karrierefragen werden durch Selbst- plus Fremdreferenz entschieden. Zwei Perspektiven müssen miteinander abgeglichen werden. Dies mag sich systemintern auf das Verhalten von RichterInnen auswirken. Die Umwelt könnte aber ihr Verhalten nicht „steuern“. Ein negatives Presse-Echo auf ein Urteil würde nichts am Gehalt, an der Position und an der Rechtsgültigkeit der Entscheidung ändern. RichterInnen können nicht für die Folgen ihrer Entscheidung verantwortlich gemacht werden! Durch Organisation wird dieses Risiko abgedeckt. Organisation ermöglicht Unverantwortlichkeit für die Folgen von Entscheidungen. Profession und Organisation sind also funktional äquivalent. Durch Profession kann das Gericht autonom entscheiden... Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    75. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 325, K07

    Play Episode Listen Later Nov 30, 2023 57:09


    Im Rechtssystem bilden Gerichte das Zentrum. Und nur dort gibt es einen Zwang zu entscheiden. Was bedeutet das für die operative Geschlossenheit des Systems? Dies untersucht der sechste Abschnitt in zeitlicher und sachlicher Hinsicht. Zunächst geht es um die Zeitdimension von Entscheidungen. Eine Entscheidung kann nur in der Gegenwart getroffen werden. Sie unterbricht den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft und stellt ihn neu wieder her. Die Form dieser Unterbrechung und Neuverknüpfung nennen wir eine Entscheidung. Wie aber verknüpft ein operativ geschlossenes System Vergangenheit und Zukunft? Die Vergangenheit wird im Fallformat rekonstruiert, mithilfe des Rechts, das ebenfalls in der Vergangenheit zustande kam. Beachtet wird nur, was für den Fall rechtsrelevant ist. Alles andere wird abgeschnitten. Aus dieser Limitierung von Informationen zur Vergangenheit ließe sich allerdings noch keine Gerichtsentscheidung ableiten. Es braucht zusätzlich einen rechtlichen Zukunftsentwurf. Die Zukunft wird skizziert, indem man Entscheidungsregeln entwickelt, die dann auch für gleiche Fälle in der zukünftigen Gerichtspraxis gelten werden. Zum Beispiel: Regeln, wie Gesetze zu interpretieren sind oder wie der Fall abstrahiert werden kann. Es gilt, Beschränkungen zu erfinden, die in Zukunft bindend sein werden. Man mutmaßt in der Gegenwart über eine zukünftige Gegenwart. Auf diese Weise schließt sich das Kommunikationssystem Recht zeitlich. Die Entscheidung des Gerichts konstruiert eine Verbindung von Vergangenheit und Zukunft, für die es so in der Realität keine Entsprechung gibt. Die Zukunft wird auch von anderen, unabsehbaren Entscheidungen mitgeprägt werden. Wenn die heute prognostizierte Zukunft eintritt, wird sie eine andere sein als die Prognose vermuten ließ. Die Gerichtsentscheidung konstruiert eine Eigenzeitlichkeit des Falls, eine zweite Zeit. Zeit wird als Differenz gehandhabt: Sie ist die Konstruktion eines Beobachters. Jede Beobachtung, die in der Kommunikation zum Ausdruck bringt, muss mit anderen Beobachtungen synchronisiert werden. Dabei handelt es sich zwangsläufig um eine Auswahl von Unterscheidungen und Bezeichnungen. Nur das, was zugrunde gelegt wird, ist anschlussfähig für andere Kommunikationen. Bei der rechtlichen Entscheidungsfindung erfüllt die Rekonstruktion der verschiedenen Perspektiven des Streitfalls die Funktion, sich auf die streitenden Parteien und auf die Vergangenheit zu beziehen. Das Erfinden von Entscheidungsregeln („Richterrecht“), die in gleichen Fällen wiederverwendet werden können, erfüllt dagegen die Funktion, sich auf die Zukunft zu beziehen und gesellschaftliche Erwartungen an das Recht zu stabilisieren. In der Sachdimension fällt auf, dass Gerichte sich selbst darin überwachen, ob ihre Entscheidungen auch konsistent sind. Dies geschieht durch Beobachtung zweiter Ordnung. Gerichte beobachten Rechtsentscheidungen (Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verträge), welche ebenfalls zuvor Rechtsentscheidungen beobachtet hatten. All dies geschieht durch Interpretation von Texten. Gerichte interpretieren Rechtsentscheidungen allerdings anders als Politik und Wirtschaft. Gesetzgeber und Vertragspartner müssen nicht konsistent zwischen rechtmäßigen und nicht rechtmäßigen Interessen unterscheiden. Gesetze und Verträge dienen politischen bzw. wirtschaftlichen Zwecken. Wie ein Gericht das Gesetz oder den Vertrag im Streitfall beurteilen würde, können Politik und Wirtschaft nur antizipieren. Gerichte belegen dagegen durch Argumentation, dass ihre Entscheidungen rechtlich konsistent sind. Vollständiger Text auf www.luhmaniac.de

    74. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 320, K07, V

    Play Episode Listen Later Nov 12, 2023 98:01


    Einst hierarchisch differenziert, sind Politik und Recht heute funktional differenzierte Systeme gleichen Ranges. Dieser Wechsel der Differenzierungsform wurde erst möglich, nachdem sich das Recht intern ausdifferenzierte: in ein Zentrum und eine Peripherie. In der Ständegesellschaft waren Politik und Recht nur formal getrennt. In der Praxis stand die Gesetzgebung des Monarchen meist hierarchisch über der Rechtsprechung. Im Übergang zur Moderne kommt es zu einem Wechsel dieser Differenzierungsform. Angestoßen wird der Umbau durch das Verbot der Justizverweigerung. Damit bürden sich Gerichte selbst den Zwang auf, jeden ihnen vorgelegten Fall rechtlich zu entscheiden – auch wenn es gar keine Gesetze gibt, die eine Entscheidung möglich machen. Dieser Zwang zu entscheiden ermöglicht Gerichten jedoch die Freiheit, selbst Regeln zu entwickeln, wie sie trotz mangelhafter Gesetzeslage entscheiden können. Das Rechtssystem differenziert sich entlang dieser Anforderung intern neu aus nach dem Schema Zentrum/Peripherie. Gerichte bilden nun das Zentrum. Nur im Zentrum muss zwischen rechtmäßigen/unrechtmäßigen Interessen entschieden werden. Alle anderen Operationen des Rechts, von der Gesetzgebung über die Verträge der Wirtschaft bis zum Testament, bilden die Peripherie des Rechtssystems. Dort muss nicht zwischen rechtmäßigen/unrechtmäßigen Interessen unterschieden werden. Gesetze und Verträge sind zwar rechtlich bindend, aber ob sie rechtlich „richtig“ erstellt wurden, ist damit noch nicht gesagt. Nur ein Gericht könnte das entscheiden. Innerhalb des Kommunikationssystems Recht findet also ein Umbau statt. Das Gericht hat sich seine Alleinzuständigkeit für die Unterscheidung von rechtmäßigen und unrechtmäßigen Interessen gesichert, begründet mit einzigartiger Kompetenz, die sonst nirgendwo in der Gesellschaft erfüllt werden könnte. Aus seinem Entscheidungszwang schöpft das Gericht, wie gesagt, zugleich die Freiheit, bei fehlenden gesetzlichen Grundlagen selbst Regeln zu entwickeln, wie trotz Unentscheidbarkeit entschieden werden kann. Durch dieses „Richterrecht“ schafft das Gericht jedoch selbst Recht, was gar nicht seine Funktion ist. Diese Paradoxie managen die Gerichte dann in „kognitiver Selbstisolation“: Sie entwickeln strenge, interne Regeln, welche Kompetenzen Richter brauchen, um „Mitglied“ des Gerichtssystems werden zu dürfen, und natürlich: wie Gerichtsverfahren abzulaufen haben und wie man trotz Unentscheidbarkeit entscheiden kann und sogar muss. Im Gegenzug kann die Peripherie Gesetze erlassen und Verträge verabschieden, ohne zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Interessen unterscheiden zu müssen. Am Ende dieses Umbauprozesses sind Politik und Recht jeweils autonom. Kein System ist „wichtiger“ als das andere. Eine Hierarchie zwischen ihnen gibt es nicht mehr. Aber es gibt eine Hierarchie innerhalb des Zentrums im Recht. Bestimmte Gerichte stehen rangmäßig über den anderen, etwa das Verfassungsgericht an der Spitze. Zugleich gibt es dort segmentäre Differenzierung: Gleiche Gerichtsformen sind in ihrem Rang untereinander gleich. Damit finden wir heute folgende Differenzierungsformen vor: Differenzierung zwischen Politik und Recht: funktional und segmentär (gleichrangig) Interne Differenzierung des Rechts: Zentrum (Gerichte)/Peripherie (Gesetzgebung und Verträge) Interne Differenzierung im Rechtszentrum: Hierarchie (Rangungleichheit zwischen verschiedenen Gerichten) plus Segmentierung (gleiche Gerichte sind ranggleich) Der Umbau der Politik/Recht-Differenzierung von hierarchisch auf funktional erforderte also eine weitere Differenzierungsform, die nur innerhalb des Rechts vollzogen wurde: die interne Differenzierung in ein Zentrum für Gerichte und eine Peripherie für Gesetze und Verträge. Vollständiger Text auf www.luhmaniac.de

    73. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 316, K07, IV

    Play Episode Listen Later Oct 28, 2023 65:53


    Mit dem „Verbot der Justizverweigerung“ bürden sich Gerichte auf, jeden Fall zu entscheiden. Zugleich ermöglicht ihnen dieser Zwang jedoch die Freiheit, selbst Regeln zu entwickeln, wie man trotz Unentscheidbarkeit entscheiden kann. Durch diese Regeln schaffen sie allerdings selbst Recht. Das so entstehende „Richterrecht“ beruht also auf der Paradoxie, dass die Rechtsprechung erstmal Recht schaffen muss, um Recht sprechen zu können. In dem Justizverweigerungsverbot sieht Luhmann denn auch den „Ausgangspunkt für die Konstruktion eines juristischen Universums“. Eine Art Startrampe für das Rechtsdenken und die juristische Argumentation der Moderne. Durch ihre Selbstbindung an den Entscheidungszwang erlauben sich Gerichten selbst, immer dann, wenn kein Recht „gefunden“ werden kann, es eben selbst zu „erfinden“. Im Kern ist das eine Paradoxie: Die Rechtsprechung schafft Recht, um Recht zu sprechen. Dies geschieht denn auch nur „mit linker Hand“. Es ist nicht ihre Hauptaufgabe. Die Entwicklung von Regeln läuft nebenbei mit. Diese Paradoxie hat jedoch Auswirkungen auf das gesamte Rechtssystem. Sie ist der Grund, warum die juristische Argumentation so stark auf mögliche Zukunftsfolgen von Entscheidungen abstellt – obwohl man die Zukunft niemals kennen kann. Die sorgfältige Einschätzung dient als Ausweg, um die Paradoxie zu invisibilisieren, dass trotz Unentscheidbarkeit entschieden wird. Man verzeitlicht. Das Justizverweigerungsverbot ist nicht nur eine Norm, sondern eine autologische Vorschrift: Sie beschreibt sich selbst und sie bezieht sich auf sich selbst (ist also selbstreferentiell). Zu den Auswirkungen zählt, dass man die selbst geschaffenen Regeln wiederverwenden kann bzw. muss, wenn ein gleicher Fall vorliegt. Hat ein Gericht eine Sache entschieden (res iudicata), kann sich ein anderes Gericht nicht nur auf das rechtskräftig ergangene Urteil beziehen, sondern auch auf das vorangegangene „Richterecht“, das in diesem Fall geregelt hat, wie man vorgehen muss, um zu einer Entscheidung zu kommen. „Richterrecht“ operiert selbstreferentiell, es verweist auf sich selbst. Genau das ermöglicht eine Autonomie von Gerichten in der Frage, auf welche Art und Weise Rechtsprechung zustande kommen muss. Was Autonomie bedeutet, zeigt sich dann auch daran, wie unverständlich „juristische Argumentation“ für Laien sein kann. Die selbstreferentielle Art und Weise, mit der innerhalb des Rechts argumentiert wird, ist für Laien schwerlich nachvollziehbar. Auch im angelsächsischen Kreuzverhör zeigen sich Folgen des Entscheidungszwangs, der Autonomie ermöglichte. Es regelt zum Beispiel, dass Zeugen oder Sachverständige nur durch StaatsanwältInnen und StrafverteidigerInnen befragt werdem dürfen. Welche Gesichtspunkte bei der Argumentation ausgewählt werden dürfen, ist durch die Gerichte bestimmt. Solche Entscheidungsregeln sind die sogenannten Programme des Gerichtssystems. Zugleich garantiert die normative Unterscheidung zwischen Recht/Unrecht bei jedem ausgewählten Aspekt, dass der Ausgang des Verfahrens offenbleibt. Es gilt die Unschuldsvermutung bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Urteil rechtskräftig wird. Das heißt, der Code (die leitende Unterscheidung von Recht/Unrecht, die auf jedes Argument angewendet werden muss) und die Programme des Systems (Selbstbindung an den Entscheidungszwang mit der Freiheit, „Richterrecht“ zu schaffen und sich auf selbst geschaffene Regeln zu beziehen) geben jene Struktur vor, die im Gerichtssystem des Rechts einzuhalten ist und die letztlich eine finale Entscheidung ermöglicht. Die Selbstbindung ans Justizverweigerungsverbot ermöglicht letztlich auch eine Verfahrensgarantie, die in der Verfassung abgesichert wurde. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    72. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 310, K07, IV

    Play Episode Listen Later Oct 10, 2023 75:59


    Mit dem Verbot der Justizverweigerung bringt das Rechtssystem die universale Zuständigkeit und Entscheidungsfähigkeit von Gerichten zum Ausdruck. Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Autonomie im 19. Jahrhundert. „Verbot der Justizverweigerung“ bedeutet, dass Gerichte jeden Fall, der ihnen vorgelegt wird, entscheiden müssen. Im römischen Recht und auch im Mittelalter hatte das Recht nur bestimmt definierte Klagen entschieden. Mit dem Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft braucht es vollumfängliche Zuständigkeit. Die operative Schließung als autonomes System verlangt es, keinen Fall zurückzuweisen. Der Anspruch folgt aus der funktionalen Prämisse des Rechtssystems selbst, alleinzuständig für die Unterscheidung von Recht/Unrecht zu sein. Das darum selbst auferlegte Verbot, Entscheidungen zu verweigern, ermöglichte es dann auch, die Zuständigkeit auf „öffentliche Angelegenheiten“ auszuweiten. Entscheidend ist die damit verbundene Ausweitung der strukturellen Möglichkeit. Jedem steht es nun frei, im Streitfall ein Gericht anzurufen. Diese Strukturveränderung vollzieht sich im 19. Jahrhundert, in der Zeit, als Kant den Vorrang der Praxis vor der Erkenntnis verkündet. Alle Funktionssysteme autonomisieren sich, die Gesellschaft entwickelt ein Bewusstsein für Komplexität*. Überall muss zunehmend rasch gehandelt werden. Theorien kosten Zeit, Verkürzung ist gefragt. Mit diesem Trend zum Pragmatismus korrespondiert das Justizverweigerungsverbot. Da sich das Recht positiviert, erscheint es auch akzeptabel, dass menschgemachte Entscheidungen nicht so unfehlbar sind und so zeitbeständig sein müssen wie Gottes Wille. Dass trotz „Lücken im Recht“ Urteile zustande kommen, wird zur Norm, mit notfalls kontrafaktischem Geltungsanspruch. Das Justizverweigerungsverbot bringt Universalität und Entscheidungsfähigkeit zum Ausdruck. Es kombiniert zwei Garantien: Kein vorgelegter Fall kann abgelehnt werden, und jeder Fall wird mit einer Entscheidung abgeschlossen. Infolge des Verbots entwickeln die Gerichte umfangreiche Regeln („Richterrecht“), wie zu entscheiden ist und was als Behinderung der Arbeit gilt. Z.B.: weil formale Kriterien nicht erfüllt wurden oder ein Gesetz nicht verfassungskonform war. Rechtsgrundsätze werden weiterentwickelt, Richter müssen sich fortbilden. Für die Entwicklung der Rechtstheorie, an der das System lernen kann, sind die hard cases im anglo-amerikanischen Common Law von herausragender Bedeutung. Hierbei handelt es sich um besonders schwierige Fälle, die mit den Mitteln des Rechts nicht eindeutig entschieden werden können. Gerichte müssen darum Entscheidungsregeln entwickeln, die es ihnen möglich machen, „trotzdem“ zu entscheiden. Die Geltung solcher Regeln, die für Präzedenzfälle entwickelt werden, kann umstritten sein und bleiben. Begründungen von Entscheidungen werden entsprechend kurzgehalten, um unnötige Selbstfestlegung zu vermeiden. Man beschränkt sich auf das Notwendige. Dabei unterscheidet man deutlich zwischen rationes decidendi (Entscheidungsrationalität) und obiter dicta, nebenbei geäußerten Rechtsansichten, die nicht zur Entscheidungsfindung beitrugen. Der Zwang zu entscheiden und die Freiheit, Regeln zu entwickeln, stehen in einem notwendigen Spannungsverhältnis. Dieses endet, sobald das Urteil zu einem bestimmten Zeitpunkt rechtskräftig wird. Auch wenn an den Regeln im Nachhinein Zweifel aufkommen sollten – die Rechtskraft des Urteils steht damit nicht in Frage. Anders als Gesetze, kann das Urteil nicht nachträglich an veränderte Annahmen und Regeln angepasst werden. „Richterrecht“ ist demnach nicht nur eine Norm, sondern eine autologische Vorschrift. Mit dem Verbot der Justizverweigerung verlangen sich Gerichte ab, Regeln zu entwickeln, wie sie auch unter widrigen Umständen entscheiden können. Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    71. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 305, K07, III

    Play Episode Listen Later Sep 22, 2023 68:27


    Gerichte treffen Entscheidungen, indem sie das Recht „anwenden“ und Gesetzestexte interpretieren – sollte man meinen. Wie nebenbei entwickeln sie dabei jedoch umfangreiche Regelwerke, so etwa die Zivilprozessordnung, in denen sie festlegen, auf welche Art und Weise die Entscheidungsfindung abzulaufen hat. Dieses sogenannte „Richterrecht“ ist vordergründig zwar nur ein Nebenprodukt der Gerichtstätigkeit. Im Einzelfall kann es jedoch bedeutsamer sein als das Gesetzesrecht! Hierin zeigt sich erneut das zirkuläre und keineswegs hierarchische Verhältnis zwischen Politik und Recht: RichterInnen wenden eben nicht nur einfach Gesetze an. Sie „schaffen“ selbst das Recht, das sie „anwenden“. Diese Paradoxie, dass die Gerichtsentscheidung aus der Logik des Rechts abgeleitet wird, wird in der Praxis jedoch regelmäßig invisibilisiert. Statt von „Richterrecht“ wird dann etwa von „Erkenntnisquellen“ des Rechts gesprochen. Eine derartige Autonomie war nur möglich, indem sich das Recht als System selbst ein „Verbot der Justizverweigerung“ auferlegt hat. Das Verbot bedeutet, dass Gerichte jeden vorgelegten Fall entscheiden müssen – auch wenn kein entsprechendes Gesetz vorliegt, auch wenn der Fall unentscheidbar ist. Trotzdem muss ein Urteil gefällt werden. Andernfalls hätte sich das Recht als System gar nicht operativ schließen können. Man müsste dann unentscheidbare Fälle an den Gesetzgeber „zurückgeben“ und abwarten, ob dieser die Gesetzeslage so ändert, dass ein Urteil mit Bezug auf den neuen Gesetzestext möglich wird. Ein solches non liquet hat sich das Rechtssystem aus guten Gründen selbst verboten. Stattdessen hat es sich unter Entscheidungszwang gesetzt. Und dieser Zwang macht es nun notwendig, laufend Regeln zu entwickeln, wie zu entscheiden ist, auch wenn der Fall unentscheidbar ist. Anm.: In unserem Podcast verweisen wir an dieser Stelle darauf, dass alle Funktionssysteme im Umgang mit ihrer Kernfunktion so verfahren. Egal, wie paradox, unentscheidbar oder unbequem eine Anforderung jeweils ist, die Wirtschaft ist für ausnahmslos alle Fragen zu Zahlungsoperationen zuständig, die Medizin für alle Fragen zur Heilbarkeit/Unheilbarkeit von Krankheiten, das Erziehungssystem für alle Erziehungsfragen usw. Die operative Schließung verlangt es, jeden „Fall“ systemintern nach jeweils eigenen Normen zu rekonstruieren und ihn auf Basis des jeweiligen Codes zu entscheiden. Das wirft die Frage auf, was eine Entscheidung ist. Jenseits der Entscheidungstheorien zu Fragen der „Rationalität“ und „Vernunft“ bleibt die Grundfrage, was die Entscheidung selbst ist, denn sie ist nicht einfach ein letztes Argument. Da das Gerichtsurteil im Zentrum des Rechts steht, erscheint eine tiefere Beschäftigung damit angebracht. In der Theorie sozialer Systeme ist eine Entscheidung eine Differenz, nämlich: die Differenz zwischen mindestens zwei Alternativen. Oder genauer: die Einheit dieser Differenz. Die Entscheidung ist das von den Alternativen ausgeschlossene Dritte. Eine Entscheidung setzt voraus, dass die Situation prinzipiell unentscheidbar ist – also nicht bloß: noch nicht entschieden. Denn nur wenn prinzipielle Unentscheidbarkeit vorliegt, muss überhaupt entschieden werden. Der Faktor Zeit spielt bei Entscheidungen eine wichtige Rolle. Zeit ist eine Form, mit deren Hilfe Ereignisse in der Umwelt unterschieden und bezeichnet werden. So wird das nicht mehr Änderbare als Vergangenheit und das noch Änderbare als Zukunft bezeichnet. Die Gegenwart ist die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft, genauer: die Einheit dieser Differenz. Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    70. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 302, K07, III

    Play Episode Listen Later Sep 1, 2023 58:34


    Im 18. Jh. wandelt sich das hierarchische Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung in ein zirkuläres. Politik und Recht werden zu autonomen Funktionssystemen und bestimmen die Differenz zwischen sich jeweils selbst. Eine Hierarchie kann es nicht geben. Kein Funktionssystem ist „wichtiger“ als ein anderes. Jedes erfüllt eine einzigartige, unverzichtbare Funktion für die Gesellschaft. Das tradierte Denken wirkt jedoch noch nach: insbesondere die alte iurisdictio-Vorstellung, der nach Gesetzgebung und Rechtsprechung nur zwei Seiten einer einheitlichen Aufgabe des Herrschers wären. Die Erfahrung, dass politische Macht entscheidend dafür gewesen war, ob man sein Recht vor Gericht auch durchsetzen konnte, lässt sich nicht so leicht vergessen. Der „zivilgesellschaftliche“ Staatsbegriff betont den Unterschied zum Militärischen. Zugleich legt er eine Inklusion der Gesellschaft in die Politik nahe, die im Widerspruch dazu steht, dass sich das politische System gerade operativ gegen die Gesellschaft schließt. Das Verhältnis zwischen Politik und Recht wird als „Weisungshierarchie“ begriffen, Gerichte als ausführendes Organ der Gesetzgebung. Die Methodik, mit der das Recht zu Urteilen gelangt, wird als Deduktion (Ableitung) aus Gesetzestexten aufgefasst. Unterschätzt wird, dass die Interpretationsfreiheit der Gerichte selbst Recht produziert. Um Gewaltenteilung zu praktizieren, differenzieren beide Systeme Verfahren und Methodiken aus. Dabei beobachten sie sich gegenseitig. Nicht nur der Richter muss die „ursprüngliche Intention“ des Gesetzgebers aus Gesetzestexten herausinterpretieren können. Auch der Gesetzgeber muss antizipieren, welche Rechtsstreitigkeiten aus Gesetzen entstehen könnten, und wie sich diese ggf. in geltendes Recht einfügen lassen. Auf diese Weise bestimmen beide Systeme immer deutlicher die Differenz zwischen sich. Wo diese doppelseitigen Bestimmungen nicht konvergieren, irritieren sie sich gegenseitig. Dann muss nachgebessert werden. Allmählich weicht die Hierarchie-Auffassung der Vorstellung eines kybernetischen Zirkels, der sich selbst steuert. Das Verhältnis der Systeme ist zirkulär: Jedes System bestimmt die Differenz zwischen sich und dem anderen System selbst. In der Formsprache des Mathematikers George Spencer Brown heißt das: Ein Re-entry findet statt, ein „Wiedereintritt der Form in die Form“. Konkret wird die Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung doppelt, auf beiden Seiten der Unterscheidung wieder eingeführt. Die Politik führt die Unterscheidung auf der Politikseite wieder ein, das Recht auf der Seite des Rechts. Die Differenz muss auf beiden Seiten akzeptabel sein. In diesem Prozess der Voneinander-Abgrenzung sind Gerichte einem Strauß von Anforderungen ausgesetzt. Sie müssen Gesetze interpretieren. Das beinhaltet, dass sie auch ihre eigene Bindung ans Gesetz ebenso wie die des Gesetzgebers interpretieren müssen. Der Zwang, Entscheidungen zu treffen, macht es möglich, höchstrichterlich von der Politik Gesetzesänderungen zu fordern, wenn eine rechtliche Problemlösung anders nicht befriedigt. Schließlich kann das „Verbot der Justizverweigerung“ zur Norm erklärt und damit verlangt werden, dass Gerichte alle ihnen vorgelegten Fälle selbst entscheiden müssen. Dieser Anspruch wirkt wie das i-Tüpfelchen auf der operativen Schließung gegenüber der Politik. Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    69. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 299, K07, II

    Play Episode Listen Later Aug 17, 2023 58:37


    Gerichte bilden ein Teilsystem (Subsystem) im Rechtssystem. Wie es zu dieser internen Ausdifferenzierung kam, lässt sich anhand der Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung historisch nachvollziehen. Dabei ist es unerlässlich, die jeweils zugrundeliegende gesellschaftliche Differenzierungsform mit zu betrachten. Denn diese bildet die Bedingungen der Möglichkeit, unter denen politische Herrschaft und Rechtsprechung voneinander unterschieden und praktiziert werden können. In der segmentären (tribalen) Gesellschaft war die Gesellschaft nach Familien und Stämmen differenziert. Begünstigung von Freunden bzw. Benachteiligung von Feinden waren naheliegend gewesen. In der stratifizierten Gesellschaft, die über Schrift verfügte, war die Gesellschaft in Schichten wie Adel/Volk differenziert, legitimiert durch ein göttliches (ontologisches) Weltbild. Verwandtschaftliche und freundschaftliche Bindungen durften bei der Rechtsprechung gerade keine Rolle mehr spielen. Schon zu Aristoteles' Zeiten (rund 300 Jahre vor Christus) unterschied man zwar zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung. Richter wurden ans Gesetz gebunden. Fälle mussten „ohne Ansehen der Person“ beurteilt werden. (Freilich auf der Grundlage der Schichtung qua Geburt, die den Schichten unterschiedliche Rechte zumaß, etwa: Sklaven, Frauen, freien Männern.) Im Römischen Reich differenzierte sich die Gesetzgebung zur Volksgesetzgebung aus. Gesetze legten fest, wer unter welchen Voraussetzungen Gerichtsgewalt ausüben durfte. Der Amtsinhaber einer Gerichtsmagistratur war der Praetor (lateinisch von „vorangehen“: prae-ire). Der Adel musste Rechtskenntnisse erwerben, um das Amt auszuüben. (Ein Vorgeschmack auf die heutige funktionale Differenzierung, bei der Expertise die nun alleinige, schichtunabhängige Voraussetzung ist.) Formal waren politische Herrschaft und Rechtsprechung also getrennt. Bis ins 18. Jh. sahen die Machtverhältnisse in Alteuropa allerdings anders aus. Welcher Fürst im Territorialstaat herrschte, war entscheidend für die Frage, ob man sein Recht auch vor Gericht durchsetzen konnte. In der Folge herrschte die Auffassung vor, die Gesetze würden schon „sagen“, was rechtens ist (iurisdictio). Gesetzgebung und Rechtsprechung wurden als zwei Seiten einer einheitlichen Aufgabe des Fürsten angesehen. Machtmissbrauch war nie auszuschließen. Ein Beispiel dafür ist die Herrschaft des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. († 1715, „Der Staat, das bin ich“) im Absolutismus. Die politische Macht, Gesetze zu erlassen (potestas legislatoria), wurde hierarchisch als über der Rechtsprechung stehend empfunden. Diese Auffassung änderte sich, wenn auch nur sehr allmählich, durch den Begriff der Souveränität. Dieser lässt sich sowohl auf Politik als auch auf Recht anwenden. Benötigt wurde der Begriff vermutlich zunächst, um den Territorialstaat politisch in Stellung zu bringen. Die formale Trennung von Gesetzgebung und Rechtsprechung machte es jedoch notwendig, sowohl „Staatssouveränität“ als auch „Rechtssouveränität“ als voneinander unabhängig zu definieren und Rechtsreformen einzuleiten, wie sie z.B. Jeremy Bentham forderte. So bringt der Souveränitätsbegriff mehr und mehr zum Ausdruck, dass beide Funktionssysteme autonom sind – und gerade darum ihre strukturelle Kopplung und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten voneinander „geregelt“ werden müssen. vollständiger Text aus luhmaniac.de

    68. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 297, K07, I

    Play Episode Listen Later Jul 1, 2023 50:10


    Start des 7. Kapitels über „Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem“. Im Rechtssystem bilden die Gerichte ein Teilsystem, auch Subsystem genannt. Subsysteme gehen auf interne Differenzierungen des Systems zurück. Welche Formen von interner Differenzierung es gibt, ist eine der ersten Fragen dieses Kapitels. Zu Beginn stellt Luhmann die Hypothese auf, dass die Ausdifferenzierung von Kommunikationssystemen eine gleichzeitig verlaufende interne Differenzierung erfordert. Ein umfassendes Rechtssystem kann demnach nur entstehen, wenn die Kommunikation über Recht anfängt, begriffliche Unterscheidungen einzuführen, z.B. zwischen Rechtsprechung, Rechtsetzung und Rechtsbeistand. Die Kommunikation differenziert sich aus. Dass sie Unterschiede erkennt und bezeichnet, dürfte eine unverzichtbare Voraussetzung dafür sein, dass sich aus der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation ein Kommunikationssystem nur für Recht herausschälen konnte. Kurz: ohne interne Differenzierung kein System. Im Folgenden soll geklärt werden, welche internen Differenzierungsformen es gibt. Eine Form ist eine Unterscheidung. Die „Form der internen Differenzierung“ ist also die Art und Weise, wie unterschieden wird, auf welcher Grundlage. Dazu zählt die Unterscheidung auf der Basis von Gleichheit bzw. von Ungleichheit. Wenn eine interne Differenzierung auf der Basis von Gleichheit erfolgt, sind die damit voneinander unterschiedenen Teilsysteme untereinander gleichwertig. So war die segmentäre (archaisch-tribale) Gesellschaft durch Familien, Wohngemeinschaften und Stämme differenziert, die untereinander gleichrangig waren. Erfolgt die interne Differenzierung auf der Basis von Ungleichheit, drückt sich das Verhältnis der damit für ungleich erklärten Teilsysteme meist durch Rangordnung aus. Dies war in der stratifizierten (geschichteten) Gesellschaft der Fall. Stratifizierte Gesellschaften verfügten über Schrift und waren Hochkulturen, sie hatten höhere Komplexität aufgebaut. So war die Adelsgesellschaft (Ständegesellschaft) in Adel/Volk geteilt. Ein ontologisches (göttliches) Weltbild begründete die Ungleichheit qua Geburt. Andere Beispiele für Ungleichheit als Begründungsfigur sind Sklavenhaltergesellschaften oder das indische Kastensystem. Verschiedene Formen der internen Differenzierung schließen sich gegenseitig nicht aus. Sie können in Systemen gleichzeitig vorkommen, die Frage ist dann nur, welche grundlegende Form dominiert. So dominierte in der Adelsgesellschaft die Ungleichheit, die Gesellschaft war grundsätzlich zweigeteilt. Innerhalb des jeweiligen Standes war man aber gleichrangig. Eine dritte Differenzierungsform ist funktionale Differenzierung, auf der die moderne Gesellschaft basiert. Gesellschaftlich unverzichtbare Funktionen wie Recht, Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft werden durch Funktionssysteme ausgeübt, die sich dafür ausdifferenziert haben – durch, wie gesagt, gleichzeitig verlaufende interne Differenzierung. Funktionale Differenzierung erfolgt anhand der Unterscheidung gesellschaftlicher Funktionen. Wirtschaft ist nicht Recht, Wissenschaft ist nicht das Gleiche wie Politik. Die so entstandenen Funktionssysteme sind ungleich, aber untereinander gleichrangig. Man kann sie nicht hierarchisch ordnen. Keine Funktion ist „wichtiger“ als andere, alle sind unverzichtbar. Durch interne Differenzierung, auf welcher Basis auch immer, können Systeme dann auch Subsysteme in sich ausbilden. Ein solches Subsystem sind die Gerichte im Rechtssystem.

    67. Zusammenfassung Kap. 6 Evolution, Luhmann: Recht der Gesellschaft

    Play Episode Listen Later Jun 5, 2023 122:19


    Systemtheorie, Evolution und das Recht. Zusammenfassung des 6. Kapitels aus Niklas Luhmanns "Das Recht der Gesellschaft". Nach dem langen Kapitel über die Evolution, welches sich in unserem Podcast über mehr als 10 Episoden hin zog, versuchen wir eine Zusammenfassung zu geben und einen Überblick zu verschaffen.

    66. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 294, K06, VI

    Play Episode Listen Later May 10, 2023 61:13


    Abschluss des Evolutionskapitels: Das Rechtssystem hat nachweislich eine eigenständige Evolution durchlaufen und sich zu einem operativ geschlossenen Funktionssystem ausdifferenziert. Aber sind deshalb auch seine soziale Bedeutung und „Größe“ gestiegen? Lässt die Evolution Prognosen zu? Diese Fragen muten seltsam an. Wie und woran sollte man die gesellschaftliche Bedeutung messen? Worauf sollte man die Systemgröße beziehen – auf die Bevölkerungszahl? Die Fragen könnten weder wissenschaftlich präzisiert werden, noch ergibt es Sinn, das Rechtssystem isoliert zu betrachten, ohne Gesellschaft und ohne andere Funktionssysteme, wie z.B. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung. Feststellen lässt sich, dass die Bedeutung von Funktionssysteme im Alltag steigt. Das zeigt sich auch an Versuchen, dies zu ändern (wie dem Ruf nach „Bürokratie-Abbau“). Sie führen zwangsläufig in die Irre. Der Grund ist, dass man dieselben Systemstrukturen, die Komplexität aufgebaut haben, in Anspruch nehmen muss, um Komplexität abzubauen. Das Wachstum von Funktionssystemen lässt sich zwar in absoluten Zahlen feststellen. Sowohl die Größe der Gesellschaft, gemessen in Bevölkerungszahlen, als auch ihre Komplexität sind gestiegen – ebenso wie die systeminterne Komplexität innerhalb aller Funktionssysteme. Aber das sagt nichts über die Bedeutung für die Gesellschaft aus. Am ehesten könnten Zahlen von Kommunikationseinheiten wiedergeben, wie hoch die soziale Bedeutung des Rechtssystems ist. Diese müssten jedoch auch die Qualität der Kommunikation und deren soziale Auswirkungen miteinschätzen können; was unmöglich erscheint. Aus diesen Gründen macht es wenig Sinn, Aussagen über evolutionäre Veränderungen auf die Einheit eines Funktionssystems zu beziehen. Eher zutreffend ist die Aussage, dass sich durch die Ausdifferenzierung des Rechts zum operativ geschlossenen Funktionssystem die Erwartung der Gesellschaft an das Recht verschoben hat: Statt Gerechtigkeit zu schaffen, erfüllt das Recht nun eher die Funktion, Schicksalsschläge durch erlittenes Unrecht auszugleichen. Feststellen lässt sich auch, dass die Ausdifferenzierung des Rechts dazu führt, dass der Code (die Unterscheidung von Recht/Unrecht) universalisierbar ist. Im Prinzip kann das Rechtssystem diese Unterscheidung auf jeden Sachverhalt anwenden, wenn er denn für rechtsrelevant befunden wird. Z.B. regelt das Familienrecht heute viele Rechtsstreitigkeiten, die einst als strikt „privat“ galten und dem Zugriff des Rechts entzogen waren. Beobachtbar ist auch, dass die Gesellschaft von außen Funktionssysteme nicht in ihrer Operationsweise „beschränken“ könnte. Funktionssysteme können sich nur selbst limitieren. Aus all dem lässt sich jedoch nicht ableiten, ob die gesellschaftliche Bedeutung des Rechtssystems tendenziell steigt oder sinkt. Evolution ermöglicht hierzu keine Prognosen.

    65. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 290, K06, V

    Play Episode Listen Later Mar 6, 2023 75:22


    Mit welchen Mechanismen bewältigen Funktionssysteme Komplexität? Selbst erzeugte Komplexität lässt sich reduzieren, indem man sie temporalisiert. Eine Entscheidung gilt nur noch solange, bis sie durch eine andere aufgehoben wird. Ein Beispiel dafür ist, dass es im Rechtssystem kein „ewiges“ Recht mehr gibt, sondern nur noch positives, menschgemachtes Recht. Und hier gilt: Neues Recht annulliert altes. Ein weiterer Mechanismus zur Bewältigung intern erzeugter Komplexität besteht darin, die Varietät der Operationen zu steigern. Das System lernt, mehr verschiedenartige Operationen durchzuführen. Der Nachteil ist: Die Redundanz sinkt. Entscheidungen sind zwangsläufig weniger konsistent; sie werden folglich als weniger gerecht empfunden. Das wohl wichtigste Beispiel für diesen Mechanismus ist: Durch die Entwicklung eines einklagbaren Rechtsanspruchs, der auch den Privatwillen umfasst, erhöhte das Recht im 19. Jh. seine Varietät. Es passte seine „Bandbreite“ den Bedürfnissen der sich zunehmend funktional differenzierenden Gesellschaft an. Dass private Verträge einen Rechtsanspruch begründen können, führte dazu, dass eine Klage nur gegen eine Person möglich ist. Man kann nicht gegen gesellschaftliche Bedingungszusammenhänge klagen oder gegen Gruppen. Ein Kollektiv kann nicht für einen Schaden haften, den ein Individuum verursacht hat. In der Folge kommt es zur Personalisierung der Rechtslagen. Das gesamte Rechtssystem muss sich darauf umstellen. Auf dieser Basis entstand die Figur der subjektiven Rechte. Diese können eingeschränkt werden. Das Recht macht sich die Paradoxie handhabbar, dass Freiheit notwendigerweise bedingt, dass sie eingeschränkt werden kann. Durch die Figur der „juristischen Person“ können dann auch Rechtsansprüche gegen Organisationen geltend gemacht werden. Personalisierung verlangt auch, dass die Rechtsfähigkeit nicht mehr von sozialer Herkunft abhängen darf. Jeder muss Anspruch auf Zugang zum Rechtsverfahren haben. Verfahrensrecht und materielles Recht müssen an diese Erfordernisse angepasst und miteinander abgestimmt werden. Was uns heute normal erscheint, bedeutet evolutionstheoretisch eine Überwindung von Unwahrscheinlichkeit. Denn in der tribalen Gesellschaft und bis hin in die Ständegesellschaft war es üblich gewesen, dass Familie und Verbündete im Rechtsstreit Beistand leisten. Heute ist es umgekehrt. Das klagende und das angeklagte Individuum sind ausschließlich auf das Rechtssystem angewiesen. Der einzige zulässige Rechtsbeistand ist – Rechtsbeistand. Zugleich existieren die sozialen Bindungen, die ein Individuum zur Familie oder zu Organisationen hat, natürlich weiterhin. Das Rechtssystem hat auch darauf reagiert. Soziale Bindungen wurden dekomponiert, um sie mit den Mitteln des Rechts neu aufzubauen. So fungieren z.B. Rechtsschutzversicherungen oder Berufsverbandsrecht wie eine Art Ersatzleistung für den verlorenen Beistand durch Familie und Stämme. Indem das Recht jeden sozialen Einfluss auf die Rechtsentscheidung abscheidet, verbietet es sich zugleich selbst, dass soziale Bindungen den Richter beeinflussen dürften. Auf diese Weise wird erstmals Korruption innerhalb des Rechts überhaupt als Problem benennbar. Subjektive Rechte sind nicht nur bedeutsam für den Zugang zum Recht, sondern für den Zugang zu allen Funktionssystemen. So hat zwar jeder das Recht auf Teilnahme am Erziehungssystem durch Schulbesuch oder zur Teilnahme an politischen Wahlen. Doch schon einfache Regeln, die sich Institutionen systemintern geben, können verhindern, dass die Rechte wahrgenommen werden können. Z.B., wenn es für die „Teilhabe“ einen festen Wohnsitz braucht. Das Recht auf Zugang zu Politik, Wirtschaft, Medizin usw. muss individuell mit rechtlichen Mitteln erstritten werden. Vollständiger Text: auf https://luhmaniac.de

    64. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 286, K06, III

    Play Episode Listen Later Feb 6, 2023 84:50


    Wohin führt Evolution? Wie soll man das, was durch sie entsteht, bezeichnen? Diese Frage wird seit dem 18. Jh. unter dem Begriff des Fortschritts diskutiert. Bis heute ist „Fortschritt“ ein beliebtes Mindset, um Veränderung zu beschreiben. So steht der Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung von 2021 unter dem Titel: „Mehr Fortschritt wagen“. Luhmanns Evolutionstheorie verzichtet auf die Aussage, dass Evolution zu Fortschritt führen würde. Der Grund ist: Fortschritt impliziert eine Bewertung, nach der Evolution erstrebenswert und planbar wäre. Man müsste demnach nur anstreben, das Bestehende zu verbessern, z.B. durch Technik, Arbeitsteilung oder Spezialisierung. Die Evolution kennt jedoch keine Motive. Sie kann auch destruktiv sein und Systeme zerstören. Darum gehören auch die Begriffe „Zivilisation“ und „Geist“, wie sie im 18./19. Jh. diskutiert wurden, nicht in den Baukasten einer Evolutionstheorie. Sie verlängern die Annahme eines Fortschritts in Richtung auf eine durch vernünftiges Handeln verbesserbare Ordnung. Es liegt ein Wünschen darin, der Versuch einer Sinngebung. Wobei der „menschliche Geist“ dann auch noch die „Seele“ umfasst und dem göttlich geprägten Weltbild entstammt. Die Frage ist außerdem: Fortschritt wovon? Frühere Evolutionstheorien setzten Errungenschaften als gegeben voraus, die erst durch Evolution entstanden sind. Z.B.: Eigentum, Schrift, Vertrag, Rechtsverfahren. Nicht zuletzt wurde der Fortschrittsgedanke stark durch die Industrialisierung und von ökonomischen Zielsetzungen geprägt. Das zwingt zu einem neuen Ansatz: Entweder man ersetzt „Fortschritt“ durch einen genaueren Begriff. Oder man verzichtet darauf, überhaupt beschreiben und klassifizieren zu wollen, welche Art von Ordnung durch Evolution entsteht. Die Theorie sozialer Systeme bietet präzisere Instrumente, indem sie stärker abstrahiert. Ausgangspunkt ist die einfache Aussage, dass Evolution die Bildung komplexer Systeme ermöglicht. In diesen Systemen und neben ihnen haben dann auch einfacher strukturierte Systeme eine Chance zu überleben. Ein Ziel, auf das alles hinausläuft (télos), existiert nicht. Die Evolution ermöglicht die Formentstehung von Systemen, die sich auch bei hoher struktureller Komplexität reproduzieren können – mit einer hohen Anzahl an verschiedenartigen Operationen (Varietät). Das setzt voraus, dass sie intern in der Lage sind, systemrelevante Informationen von nicht systemrelevanten Informationen zu diskriminieren. Im Recht also: rechtsrelevante Kommunikation von nicht rechtsrelevanter Kommunikation abzuscheiden. Durch diese Operationsweise entsteht ungewollt höhere Komplexität. Bewältigt werden kann sie nur, indem das System abermals die Komplexität seiner Operationsweisen erhöht. Auf diese Weise reagiert die Evolution auf ihr eigenes Ergebnis. Erhöhte Anpassungschancen lassen sich daraus nicht eindeutig ableiten. Entscheidend ist, ob das System die zunehmende Komplexität bewältigen kann. Ein nicht mehr zu bewältigendes Übermaß an Komplexität kann die Autopoiesis auch zum Erliegen bringen. Soziale Systeme, die durch Kommunikation operieren, können untergehen. Die Aussage an sich aber, dass Evolution höhere Komplexität in und zwischen Systemen ermöglicht, kann als unbestreitbares Faktum angesehen werden. Ein einfacher Beleg dafür ist, dass das Recht heute sehr viel komplexer ist als in der segmentären und in der stratifizierten Gesellschaft. Im Rückblick ist beobachtbar, dass die Evolution Unwahrscheinlichkeiten überwindet. Feststellbar ist dies als Grad der Abweichung vom Ausgangszustand. Vollständiger Text auf luhmaniac.de

    63. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 281, K06, III

    Play Episode Listen Later Jan 20, 2023 74:24


    Bis ins 17. Jh. blockiert das gesellschaftliche Problem allgegenwärtiger Gewalt die eigenständige Evolution des Rechts. Erst nachdem das politische System das Gewaltmonopol für sich beansprucht, kann es ein „öffentliches Interesse“ an Strafgesetzgebung behaupten und Strafverfolgung rechtlich durchsetzen. An der Lösung des Gewaltproblems sind Politik und Recht strukturell gekoppelt. Der III. Abschnitt hatte bereits gezeigt, dass die eigenständige Evolution des Rechts im 18./19. Jh. von der Ausdifferenzierung des politischen Systems vorangetrieben wurde. Die Anzahl und die Bandbreite der rechtlichen Operationen erhöhten sich dadurch. Nun fragt Luhmann, ob es noch tieferliegende gesellschaftliche Bedingungen gibt, die eine eigenständige Rechtsevolution ermöglicht haben. Das heißt zugleich, dass diese Bedingungen die eigenständige Evolution zuvor blockiert hatten. Eine solche gesellschaftliche Bedingung besteht in der Lösung des „Gewaltproblems“. Thomas Hobbes hatte 1651 in seinem Werk „Leviathan“ die Allgegenwärtigkeit physischer Gewalt zum Ausgangspunkt seines Gesellschaftsvertrages gemacht, aus dem letztlich der moderne Territorialstaat mit Gewaltenteilung, Verfassung und dem Ideal der parlamentarischen Demokratie hervorging. Weil im „Naturzustand“ jeder gegen jeden Krieg führe, könnte eine Lösung, die Frieden sichert, nur darin bestehen, dass jedes Individuum auf sein Urrecht der Gewaltanwendung verzichtet und es auf einen „Souverän“ überträgt. Der historisch gegebenen Ausgangslage wird damit eine fiktive, logisch begründete Ausgangslage entgegengesetzt. Das politische System inkludiert Gewalt, um Gewalt zu exkludieren. Es konsolidiert sich auf dieser Machtbasis. Die Paradoxie, dass der Souverän Gewalt ausüben darf, um Gewalt zu verhindern, wurde aufgelöst durch die Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt. Auch die Paradoxie, dass das Volk die Quelle der Macht ist und damit zugleich der Souverän und sein eigener Untertan, wurde aufgelöst durch Unterscheidungen. Das Volk wurde unterschieden in: Volk, Politik, Verwaltung und Publikum (Luhmann, „Politik der Gesellschaft“, S. 257). D.h., das gesellschaftliche Problem physischer Gewalt wurde zu einem politischen Problem erklärt, regulierbar durch Gesetzgebung, die Strafdurchsetzung einschließt. Durch das Gewaltmonopol des Staates können Strafrecht und Zivilrecht getrennt werden. Für die Evolution des Rechts wirkte dies befreiend. Jahrtausendelang war die Lösung von Gewaltkonflikten die Hauptfrage des Rechts gewesen. Bis ins Hochmittelalter war Frieden eine Ausnahme. Die Durchsetzung des Rechts blieb unsicher. Nun fiel diese Blockade. An diesem Punkt sind Politik und Recht strukturell gekoppelt, d.h. strukturell offen für Irritationen aus dem jeweils anderen System. Verarbeitet wird jede Irritation jedoch in operativer Geschlossenheit. Erst ihre Kopplung in der Gewalt(en)frage sichert die Autopoiesis beider Systeme. Diese Entwicklung stellt einen Wendepunkt im gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt dar. Fortan steht nicht mehr der Schaden des Opfers im Fokus des Rechts, sondern der Verstoß gegen das Gesetz. Der Verstoß kann im öffentlichen Interesse geahndet werden, denn das Individuum hat sein Urrecht, Gewalt mit Gewalt zu erwidern, an den Staat abgetreten. Die Gesetzgebung kann nun sogar regeln, dass es rechtens sein kann, gegen geltendes Recht zu verstoßen, z.B. aus Notwehr. Autopoiesis und strukturelle Kopplung gehen Hand in Hand. Die Evolution benutzt die Autopoiesis der anderen Systeme, die sie vorfindet. Auf Umweltanstöße entwickelt jedes System systemeigene Problemlösungen. Ohne die politische Lösung des Gewaltproblems wäre die eigenständige Evolution des Rechts blockiert geblieben.

    62 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 278, K06, III

    Play Episode Listen Later Jan 3, 2023 53:13


    Im 18./19. Jh. erhöht das Recht seine Varietät, weil es eine Vielzahl von Gesetzesänderungen infolge der Demokratisierung des politischen Systems abarbeiten muss. Gesetzgebung trifft auf Rechtsprechung: An diesem Punkt zeigt sich einmal mehr, wie unterschiedlich die Funktionssysteme auf Programmebene operieren. Die Politik verfolgt Ziele und legt Zweckprogramme auf, um ihre Ziele zu erreichen. Damit setzt sie Normen, die Anlass für Rechtskonflikte werden können. Das Recht operiert dagegen mit Konditionalprogrammen: Wenn der Fall gleich ist, dann wird er gleichbehandelt; wenn er ungleich ist, muss er ungleich behandelt werden. Dabei bezieht sich das Recht permanent auf sich selbst, d.h. auf geltendes Recht. Es muss konsistent, in sich widerspruchsfrei, entscheiden. Nun trifft das Recht auf kaum noch um Konsistenz bemühte Gesetzestexte, die es auf der Basis von geltendem Recht konsistent beurteilen muss. Um das Problem handhabbar zu machen, differenziert sich das Recht stärker aus und entwickelt in der Praxis Auswege: Interpretationsfreiheiten werden erhöht, „unbestimmte“ Rechtsbegriffe eingeführt, Doppeldeutigkeiten gegebenenfalls hingenommen und Abwägungsformeln eingeführt, um Entscheidungen zu beschleunigen. Durchgängig rechtliche Konsistenz ist praktisch jedoch nicht mehr haltbar. Das wiederum wirkt auf die Politik zurück, die bei der Gesetzgebung die jeweils geltende Rechtslage mitkalkuliert und sich manche Rechtsformel zu eigen macht. Die zunehmende Inkonsistenz der politischen Gesetzgebung hat zur Folge, dass Normen leichter geändert werden können. Sie werden als Einzelnormen kleingeschnitten in kleinere Sinneinheiten, die sich schneller ändern lassen und womöglich nur als punktuelle Übergangslösung auf Zeit fungieren. Die Änderbarkeit von politisch gesetzten Normen durch das Recht wird zur Normalität. Dass auf diese Weise ein „pluralistisches“ Rechtskonzept entstehen würde, verneint Luhmann mit Verweis darauf, dass die Autopoiesis (Selbstreproduktion) der rechtlichen Kommunikation in keiner Weise angetastet ist. Das Rechtssystem gewinnt stattdessen an Varietät: Es kann mehr verschiedenartige Operationen durchführen. Dadurch verliert es jedoch auch an Transparenz gegenüber seiner Umwelt, es wird schwerer verständlich und legitimierbar. Das Resultat dieser Evolution ist, dass es nur noch positives, „menschgemachtes“ Recht gibt; unabhängig von vorherigen Rechtstraditionen. Das Recht entscheidet als System autonom, was geltendes Recht ist. Es ist kein logisch geschlossenes, sondern ein operativ geschlossenes System: Es reproduziert alle Elemente (Kommunikationen), aus denen es besteht, selbst. Die Geltung des Rechts geht darum auch nicht auf „Einheit“ zurück, sondern im Gegenteil: auf die Differenz, die eine spezifisch rechtliche Kommunikation erst in die Kommunikation der Umwelt hineinzeichnet. Erst diese Differenz konstruiert die Identität als Funktionssystem mit Alleinzuständigkeit für Rechtsentscheidungen. Erst durch die Differenz wird jener Unterschied markiert, der eine Kommunikation als spezifisch rechtlich kennzeichnet und sie von jeder anderen Art von Kommunikation abgrenzt.

    61 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 273, K06, III

    Play Episode Listen Later Oct 24, 2022 86:29


    Mit zunehmender Verschriftlichung des Rechts differenzierte sich auch die Rechtslehre im 18. Jh. aus. Um Problemlösungen auf der Grundlage von vorhandenem Recht widerspruchsfrei (konsistent) konstruieren zu können, systematisierte man Begriffe und achtete auf rechtsgeschichtliche Zusammenhänge (Kohärenz). Aus kleinen semantischen Abweichungen, deren Tragweite nie vorhersehbar ist, entwickelten sich so ganze Rechtsinstitute, wie z.B. das Haftungsrecht. Der evolutionäre Prozess setzt ein, wenn eine Variation sich bewährt, weil infolgedessen weitere Variationen an die jeweils vorherige anschließen können. Es kommt zur „Abweichungsverstärkung“: Die ursprüngliche Variation verstärkt sich, indem jede weitere Variation neue Anschlussmöglichkeiten bietet. Damit wurde das Recht jedoch zunehmend nur noch für Praktiker verständlich. Im 19. Jh. kritisierten Rechtswissenschaftler die Begriffsjurisprudenz: eine Interpretation, die sich an den Wortlaut von Gesetzestexten klammert, ohne den Sinn des Gesetzes selbst zu hinterfragen – und ihn dadurch womöglich ad absurdum führt. Als verfehlte Auslegungsmethode wird die Begriffsjurisprudenz erst Ende des 19. Jh. abgelehnt. In der Folgezeit werden Variationen mit dem Verweis auf Kompetenznormen in Politik und Recht gerechtfertigt. Dass sich die Rechtsdogmatik ausdifferenzierte, begünstigte wiederum die Ausdifferenzierung der Stabilisierungsfunktion des evolutionären Prozesses. In der Praxis muss das Recht angesichts einer Variation zwei Arten möglicher Konsequenzen unterscheiden: Hat die Variation Konsequenzen für die Rechtslehre? Oder wirkt sie sich nur auf zukünftige Gerichtsentscheidungen aus? Im zweiten Fall handelt es sich um änderbares Recht. Die Entscheidungsmöglichkeit gabelt sich. Das System differenziert also zwischen Selektionsfunktion und Stabilisierungsfunktion. Bei der Überarbeitung und Ausweitung der Rechtslehre wird ihre Dogmatik zur Garantie dafür, dass das System Fälle als System konsistent lösen muss. Die Geltung kann nicht mehr mit religiösen Normen begründet werden und auf rechtliche Konsistenz umgestellt. Zugleich ermöglicht die Rechtsdogmatik es dem System, aus eigenen Fehlern zu lernen. Jede Problemlösung muss auf der Grundlage des vorhandenen Rechts samt seiner Semantik konstruiert werden. Ist das nicht möglich, werden Fehler und Schwachstellen sichtbar. Die dogmatische Rekonstruktion der Problemlösung hatte im späten Mittelalter zur Idee geführt, dass jeder Vertrag, der nicht gegen Recht verstößt, als rechtskräftiger Titel beurkundet werden kann (ex nudo pacto oritur obligatio; eine Verpflichtung entsteht aus einer Vereinbarung). Im 18. Jh. eröffnet dies die Möglichkeit, das Recht an neuartige Bedarfe für Kapitalakkumulation und Haftungsbeschränkungen anzupassen; z.B. durch die neue Figur der juristischen Person. Mit „Anpassung“ ist jedoch nie Fremdbestimmung gemeint. Für das Rechtssystem sind die Interessen der Umwelt nur insoweit eine Irritation, als daraus eine juristische Problemstellung erwächst. Bereits die Frage, ob es sich um eine rechtsrelevante Aufgabe handelt, ist eine systeminterne Operation. Die Norm, Problemlösungen konsistent zu konstruieren, überträgt das Rechtssystem dann zunehmend auch auf seine Interpretation der Gesetzgebung. Die „ursprüngliche Intention“ des Gesetzgebers (die bei der Begriffsjurisprudenz so auf den Hund gekommen war) wird im Common Law standardmäßig hinterfragt (durch die Frage, welches „Unheil“ das Gesetz beheben sollte, die sog. „mischief rule“, deutsch: Unfug-Regel). Mit dieser Frage motiviert sich das Recht dazu, eine Variation abzulehnen, wenn sie die Konsistenz bzw. Stabilität bzw. Gerechtigkeit gefährden würde. (Vollständiger Text auf luhmaniac.de)

    60 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 268, K06, III

    Play Episode Listen Later Oct 8, 2022 86:34


    Durch Neuinterpretation von vorhandenem Recht kann sich das Recht in einem Verfahren anlässlich eines Streitfalls punktuell ändern. D. h. durch Variation und Selektion in einzelnen Punkten transformiert es sich im Laufe der Zeit. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine zweckgerichtete Aktivität des Systems. Die Selbständerung ist die Konsequenz der Art und Weise, wie sich das Recht reproduziert, nämlich durch die laufende Entscheidung, ob eine vorgeschlagene Variation akzeptiert wird oder nicht. Das Recht erneuert sich also laufend. Darum ist die Entscheidung in einem Streit auch keine Entscheidung zwischen altem und „neuem“ Recht. Das neue Recht entsteht erst durch die Neuinterpretation des alten, indem eine andere als die übliche Interpretation vorgeschlagen und dies bejaht wird. Neues Recht entsteht epigenetisch, aus dem jeweils vorhandenen Material entstehen neue Strukturen. Eine solche Operationsweise setzt die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung voraus. Dafür schuf das Verfahren die entscheidende Voraussetzung. Denn nur in der Form des Verfahrens legt das Rechtssystem normative Erwartungen an sich selbst fest und beobachtet sich laufend selbst dabei, ob es die Erwartungen in der von ihm selbst vorgeschriebenen Weise erfüllt. Eine Variation in der Argumentation darf sich seitdem nur noch auf geltendes Recht beziehen (und nicht mehr auf Gott, Natur, Moral). Das gleiche gilt für die Selektion. Die Antigone-Tragödie spiegelt wider, wie die Gesellschaft in der Antike diese Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung noch nicht besaß. Man haderte mit der Vorstellung einer Hierarchie von göttlichem Recht, positivem Recht und einem individuellen Recht zum Widerstand. Antigone musste entscheiden, ob sie gegen die Gebote der Götter oder gegen die Gesetze der Stadt (polis) verstoßen wollte. Ihr Untergang war so oder so besiegelt. Evolution bedeutet jedoch nicht nur Variation und Selektion, sondern auch Restabilisierung. In der Übergangsphase, als sich das Recht zu einem operativ geschlossenen Funktionssystem auszudifferenzieren begann, stieß es zunächst auf das Problem, sich in einer Gesellschaft legitimieren zu müssen, die noch durch ein ontologisches Weltbild geprägt war und sich den Bezug auf göttliches Recht, Natur oder Moral weiterhin erlaubt. Das Rechtssystem musste sich erstmal innerhalb der Gesellschaft legitimieren, in der es ja operiert. Diese Legitimierung erfolgte durch die Gerichtspraxis sowie durch schriftliche Fixierung von Rechtsnormen, Rechtsmeinungen, Kategorien und Merkregeln. Diese führten zu einer Ausdifferenzierung der Rechtslehre, mit der alte und neue Fälle verglichen werden können. Man fängt an, den Fall an den Regeln zu messen und die Regeln an dem Fall. Das führt dazu, dass ungleiche Fälle ungleich behandelt und für sie neue Regeln entwickelt werden müssen. Restabilisierung stellt das System aber auch nach innen vor ein Problem: Sind die von ihm selbst neu geschaffenen neuen Strukturen bei steigender Komplexität noch praktikabel? Auf operativer Ebene ist Restabilisierung unproblematisch: Durch Variation und Selektion ändert sich das Recht, und das geänderte Recht liefert nun die Ausgangslage für zukünftige Fälle. Auf struktureller Ebene sieht es anders aus. Das Recht muss praktikabel bleiben, überschaubar und attraktiv für seine „Benutzer“, die Jurist:innen. All dies ermöglicht der Buchdruck. Er beseitigt das Chaos der oralen Tradition und erlaubt Systematisierung und methodisches Vorgehen. Im Common Law des 18. Jh. beginnt die Gesellschaft dann auch, sich für ihre Abstraktions- und Selbstbeobachtungsfähigkeiten zu bewundern. Man bestaunt die besonderen Leistungen, die Funktionssysteme vollbringen, und schreibt das Können der „Nation“ zu.

    59 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 265, K06, III

    Play Episode Listen Later Sep 18, 2022 58:24


    Die Erfindung des Verfahrens gehört zu den bedeutendsten evolutionären Errungenschaften des Rechtssystems. Zum entscheidenden Träger der eigenständigen Evolution des Rechtssystems wurde jedoch letztlich die juristische Argumentation. Die Form des Verfahrens gab vor, dass sich jede Argumentation fortan nur noch auf das Recht beziehen durfte. Damit verboten sich zugleich Ausflüge in nichtrechtliche Gefilde, wie sie zuvor üblich gewesen waren, z.B. die Argumentation mit Gott, Natur oder Moral, oder die Ad-hominem-Argumentation („Beweisrede zum Menschen“). Diese Entwicklung zu einem selbstrekursiven, sich allmählich operativ schließenden Funktionssystem war weder „planbar“ noch ist sie selbstverständlich. Sie stellt im Gegenteil eine überwundene Unwahrscheinlichkeit dar. Exzeptionelle Bedingungen dafür gab es in Europa durch das Römische Zivilrecht. Die römische Fallpraxis hatte es zu einem beachtlichen Differenzierungsgrad gebracht. Amtsträger instruierten Richter, bei der Rechtsprechung Grundsätze anzuwenden. Diese öffentlichen Anweisungen (Edikte) wurden verfeinert, redigiert, aktuellen Fällen angepasst. Die Komplexität stieg – und damit der Bedarf an fachlicher Expertise. Die so entstehende Rechtskunde (Jurisprudenz) bedeutete anfangs nur, dass man Überblick besaß, wie Rechtsprechung in der Praxis zustande kommt. Im Mittelalter ging man dazu über, Wissen in Rechtssprüchen (brocardia) zu verdichten. Daraus entwickelte sich eine Rechtstradition, die ihre eigene Dogmatik schuf, grundlegende Lehrsätze, deren Wahrheitsgehalt als unumstößlich gilt. Die Dogmen wirkten wiederum stabilisierend auf das Recht zurück. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung insbesondere durch die Begriffe Eigentum und Vertrag. Beide ermöglichten eine strukturelle Kopplung mit der Ökonomie. Relativ spät entwickelte das Recht die rein juristische Unterscheidung von Eigentum und Besitz. Rechtlich ausschlaggebend ist seitdem das Eigentum, unabhängig von der Frage, wer etwas augenscheinlich „be-sitzt“, z.B. Land. Mit der Verrechtlichung des Eigentumsbegriffs wurde auch dessen gewaltsame Verteidigung verrechtlicht. Der Rechtsinhaber musste sein Recht nun auf dem Rechtsweg durchsetzen, mit Rechtsmitteln und Rechtstiteln. Das führte zur Unterscheidung von Zivil- und Strafrecht, wobei das Zivilrecht es möglich machte, Kreditverträge zu gestalten. Der Begriff des Eigentums hat weitreichende soziale Folgen. Mit jeder „Vereigentumung“ werden alle anderen zu Nicht-Eigentümern erklärt (ohne dass sie gefragt oder benachrichtigt würden). Der Begriff ist universell anwendbar und stellt somit einen starken Bezug zum Rechtssystem her (mit gleichzeitiger struktureller Kopplung zum Wirtschaftssystem). Mit ähnlich weitreichenden Folgen führte der Begriff des Vertrages zur Verrechtlichung des wirtschaftlichen Problems, dass bei einer gegenseitigen Leistungszusicherung ein Handelspartner seine Leistung nicht erfüllen könnte. Mit Obligationen (Schuldscheinen) ließ sich das gegenseitige Schuldverhältnis rechtlich regeln. Es war damit auch nicht mehr zwangsläufig nötig, ein Zug-um-Zug-Geschäft durchzuführen, bei dem beide Handelspartner gleichzeitig anwesend sein müssen. Der Vertrag ersetzt den Tausch. Aus Handelspartnern werden Vertragspartner, der Vertrag regelt deren gegenseitige Leistungen (Synallagma). Es erscheint uns heute selbstverständlich, dass die juristische Argumentation sich ausschließlich auf geltendes Recht bezieht. Das darf jedoch nicht davon ablenken, dass Irrwege möglich sind. Ein heikles Sachgebiet ist z.B. die „Interessenabwägung“, die leicht außerhalb des Rechts führt, wenn Interessen von anderen Funktionssystemen wie der Politik oder der Wissenschaft hierarchisch geordnet werden müssten; was rechtlich unmöglich ist, weil es keine Zentralinstanz unter den Funktionssystemen gibt.

    58 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 261, K06, III

    Play Episode Listen Later Aug 3, 2022 65:59


    Unter welchen evolutionären Bedingungen konnte sich das Recht zu einem operativ geschlossenen Funktionssystem ausdifferenzieren? Welche Unwahrscheinlichkeiten mussten überwunden werden? Die wohl grundlegendste Bedingung ist, dass unerwartete normative Erwartungen überhaupt kommuniziert werden. Erst Streit macht klar, dass es unterschiedliche Erwartungen gab. Es entsteht ein Bedarf nach Schlichtung. Je öfter Schlichtung praktiziert wird, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich damit Erwartungen an eine „endgültige Klärung“ herausbilden, an der sich auch Unbeteiligte in Zukunft orientieren können. Dabei ist Konsens gerade kein Merkmal des Rechts. Es geht im Gegenteil darum, gerade weil es Dissenz gibt, eine Form zu finden, die es ermöglicht zu entscheiden, welche normative Erwartung für „berechtigt“ erklärt werden kann – und welche nicht. Die Erfindung des Verfahrens machte es dann möglich, den bei einer sozialen Abstimmung noch notwendigen Konsens durch davon unabhängige Verfahrensregeln und Kompetenznormen zu ersetzen, die sich selbstreferentiell auf das Recht beziehen. Diese Problemlösung bedeutete zugleich ein „Einige für alle“-Prinzip. Damit entscheiden nur noch wenige Experten (Richter und Gesetzgeber), welche Normen für alle gelten sollen. Dass sich Rollen herausbilden konnten, in denen „Einige für alle“ entscheiden, setzt die Evolution von Schrift voraus. In der stratifizierten Gesellschaft war die Beherrschung des Lesens und Schreibens ein Privileg der höherrangigen Schicht gewesen. Als sich in Europa ca. ab dem 16. Jh. Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw. als je eigene Funktionssysteme auszudifferenzieren begannen, ging damit auch ein allmählicher Wechsel der gesellschaftlichen Differenzierungsform einher. Anstelle einer religiös begründeten Platzierung qua Geburt in die Schicht von Adel oder Volk, kam es zunehmend auf Expertise an, auf Fähigkeiten, Geschick, Ehrgeiz, Talent, „Genie“ usw. Das so entstehende „Individuum“ muss sich zunehmend durch zu erwerbende Fähigkeiten rangmäßig selbst platzieren. In immer mehr gesellschaftlich notwendigen Funktionen kann die einst schichtbedingte Eignung durch Profession ersetzt werden. Der Beruf wird zur sozialen Funktion, die Personen auf Mikroebene erfüllen. Die Evolution von Verfahren hatte rechtlich weitreichende Konsequenzen: Variation und Selektion sind nicht mehr dasselbe. Sie nehmen zwei unterschiedliche Funktionen an. Ohne Verfahren hatte man Variationen in einer Argumentation invisibilisieren können; die Abweichung war praktisch kaum überprüfbar. Die Selektion hing nur von dem ab, was vorgetragen wurde, sie folgte fast zwangsläufig der Abweichung. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    57 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 257, K06, III

    Play Episode Listen Later Jul 12, 2022 84:17


    Im vorangegangenen Abschnitt wurde gezeigt, dass die Stabilisierung des Rechtssystems durch Verschriftlichung ermöglicht wird, die Variation wiederum durch Interpretation. Sowohl Sprache als auch Schrift sind selbst Produkte einer Evolution. Wenn wir also Mechanismen der Evolution untersuchen, müssen wir berücksichtigen, dass auch „die Bedingungen der Evolution ein Produkt der Evolution“ (S.257) sind. Etwas unvermittelt wirft Luhmann die Forderung ein, dass die „Geschichtlichkeit der Geschichte“ berücksichtigt werden müsse. Dies interpretieren wir so, dass Geschichte immer an den Zeithorizont einer Gegenwart gekoppelt ist, welche sie selbst durch das Reflektieren der Geschichte (Vergangenes) zu einer flüchtigen Gegenwart macht, also die Bedingungen ihrer Reflexion verändert und deshalb die Möglichkeit der Veränderung offenhalten muss. Dass es aber überhaupt einen Bereich gesellschaftlicher Kommunikation gibt, der unter der Kategorie „Geschichte“ zusammengefasst werden kann, ist selbst an geschichtliche Bedingungen geknüpft (z.B. den Zeitbegriff). Bedingungen, die nicht schon immer gegeben waren, sondern erst durch Evolution hergestellt werden mussten. – Und die Frage ist: Was war vorher? Welche evolutionären Mechanismen haben dazu geführt, dass die Bedingungen für neue evolutionäre Mechanismen entstehen konnten? Sofern wir das Rechtssystem als Produkt der Evolution bezeichnen, sind wir nicht nur gefordert, die evolutionären Mechanismen anzugeben, mit dem es dem System immer wieder gelingt, sich an die Umwelt anzupassen, sondern müssen auch berücksichtigen, dass die Voraussetzungen für solche Mechanismen nicht schon immer gegeben waren, sondern selbst durch Evolution entstanden sind. Wenn wir also z.B. sagen: Schrift gibt dem Rechtssystem die Bedingung der Möglichkeit einer Re-Stabilisierung. Dann müssen wir auch angeben können, wie die frühen Vorläufer der Rechtskommunikation vor der Verwendung von Schrift operiert haben, wie und warum es zu einem ersten Einsatz von Schrift im Kontext der Rechtskommunikation kam, aus welchen Gründen Schrift immer häufiger eingesetzt wurde – bis hin zu dem Punkt, an dem die Verwendung von Schrift eine Entwicklung der Rechtskommunikation in Gang gesetzt hat, die ohne ihre Verwendung nicht möglich gewesen wäre. Und dabei muss auch in Rechnung gestellt werden, dass die Schrift selbst eine evolutionäre Entwicklung (von der Strichliste bis zum Gesetzeskodex) vollzogen hat, die dadurch angetrieben wird, dass man Schrift für die besonderen Zwecke der Rechtskommunikation, wie auch in anderen Bereichen, eingesetzt hat. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    56 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 251, K06

    Play Episode Listen Later Jun 20, 2022 121:39


    Im I. Abschnitt hatte Luhmann Darwins Evolutionsschema von der Biologie auf soziale Systeme übertragen: Variation betrifft die Elemente: Ein Element in der Kommunikation bietet ein neues Reproduktionsmuster an. Z.B. eine neuartige Auslegung eines Gesetzestextes. Selektion betrifft die Strukturen: Die Kommunikation entscheidet, ob sie die Variation annimmt oder ablehnt. Wird die veränderte Interpretation akzeptiert, reproduziert sich das System nach dem neuen Muster. (Andernfalls nicht). Stabilisierung betrifft das gesamte System: Je nachdem, wofür sich die Kommunikation entschieden hat, reproduziert sich das System künftig nach dem veränderten Muster. (Oder wie gehabt.) Es gilt im Folgenden zu klären, was genau die Strukturen des Rechtssystems sind, die eine Evolution ermöglichen, und wie diese fixiert sind. Ziel ist es nachzuweisen, dass soziale Systeme, die operativ geschlossen sind und sich aus ihren eigenen Elementen reproduzieren, eigene Evolutionen vollziehen. Es liegt nahe, bei Strukturen sofort an Texte zu denken. Ein Abgleich von Texten und deren Interpretation macht Abweichungen markierbar. Dieser Gedanke liegt auch deshalb nahe, weil Schriftform eine nicht mehr wegzudenkende Geltungsbedingung des Rechts ist. Eine genauere Betrachtung der Schrift lässt jedoch schnell erkennen, dass diese Annahme mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist, und wie konnte sich das Recht in den Jahrtausenden vor Erfindung der Schrift entwickeln? Verschiedene preadaptive advances (der Anpassung vorausgehende Fortschritte) schufen Voraussetzungen, die ihrerseits günstige Voraussetzungen für andere Entwicklungen schufen. Herausragend ist die frühe Praxis der Devination (Weissagung). Devination kann als Vorläufer des Rechtssystems betrachtet werden. Weissagungen boten Rat in diversen Fragen des Lebens, so auch in Streitigkeiten. Verschiedene Formen begannen sich auszudifferenzieren. Durch Tradierung, d.h. durch stete Wiederholung (Redundanz), konnte man sich passende „Weisheiten“ bei Bedarf vergegenwärtigen. Diese Tradierung senkte das Risiko, dass die psychische Gedächtnisleistung eines Individuums ausfiel bzw. Anlass für Zweifel und Streit bot. (Denn eine mündliche Wiederholung ist streng genommen nur eine fiktive Wiederholung, anfällig für nicht überprüfbare Abwandlung.) Durch die Devinationspraxis wurden Expertise und Komplexität aufgebaut. Man ging von der Beschreibung von Einzelfällen aus (Kasuistik) und operierte mit Wenn-Dann-Bedingungen (also mit Konditionalprogrammen, wie das Rechtssystem heute auch). Der zunehmende Bedarf, die sich ausdifferenzierenden Formen der Devination zu fixieren, dürfte im 5. Jahrtausend vor Chr. zur Erfindung der (Keil-)Schrift beigetragen haben. Doch erst durch Phonetisierung (Verlautschriftlichung) und Alphabetisierung ca. 1200 vor Chr. wurde Schrift universell einsetzbar; heute würde man sagen: alltagstauglich. Weissagung, Schrifterfindung und Rechtsentwicklung stehen also in engem Zusammenhang. Das Recht gebrauchte die Schrift anfangs vor allem, um Schuldverhältnisse in Verträgen zu fixieren und Abweichungen (Variation!) von einem vertraglich gegebenen Versprechen nachweisen und rechtlich bewerten zu können. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    55 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 245, K06

    Play Episode Listen Later Jun 8, 2022 87:06


    Im I. Abschnitt hatte Luhmann Darwins Evolutionsschema von der Biologie auf soziale Systeme übertragen: Variation betrifft die Elemente: Ein Element in der Kommunikation bietet ein neues Reproduktionsmuster an. Z.B. eine neuartige Auslegung eines Gesetzestextes. Selektion betrifft die Strukturen: Die Kommunikation entscheidet, ob sie die Variation annimmt oder ablehnt. Wird die veränderte Interpretation akzeptiert, reproduziert sich das System nach dem neuen Muster. (Andernfalls nicht). Stabilisierung betrifft das gesamte System: Je nachdem, wofür sich die Kommunikation entschieden hat, reproduziert sich das System künftig nach dem veränderten Muster. (Oder wie gehabt.) Es gilt im Folgenden zu klären, was genau die Strukturen des Rechtssystems sind, die eine Evolution ermöglichen, und wie diese fixiert sind. Ziel ist es nachzuweisen, dass soziale Systeme, die operativ geschlossen sind und sich aus ihren eigenen Elementen reproduzieren, eigene Evolutionen vollziehen. Es liegt nahe, bei Strukturen sofort an Texte zu denken. Ein Abgleich von Texten und deren Interpretation macht Abweichungen markierbar. Dieser Gedanke liegt auch deshalb nahe, weil Schriftform eine nicht mehr wegzudenkende Geltungsbedingung des Rechts ist. Eine genauere Betrachtung der Schrift lässt jedoch schnell erkennen, dass diese Annahme mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist, und wie konnte sich das Recht in den Jahrtausenden vor Erfindung der Schrift entwickeln? Verschiedene preadaptive advances (der Anpassung vorausgehende Fortschritte) schufen Voraussetzungen, die ihrerseits günstige Voraussetzungen für andere Entwicklungen schufen. Herausragend ist die frühe Praxis der Devination (Weissagung). Devination kann als Vorläufer des Rechtssystems betrachtet werden. Weissagungen boten Rat in diversen Fragen des Lebens, so auch in Streitigkeiten. Verschiedene Formen begannen sich auszudifferenzieren. Durch Tradierung, d.h. durch stete Wiederholung (Redundanz), konnte man sich passende „Weisheiten“ bei Bedarf vergegenwärtigen. Diese Tradierung senkte das Risiko, dass die psychische Gedächtnisleistung eines Individuums ausfiel bzw. Anlass für Zweifel und Streit bot. (Denn eine mündliche Wiederholung ist streng genommen nur eine fiktive Wiederholung, anfällig für nicht überprüfbare Abwandlung.) Durch die Devinationspraxis wurden Expertise und Komplexität aufgebaut. Man ging von der Beschreibung von Einzelfällen aus (Kasuistik) und operierte mit Wenn-Dann-Bedingungen (also mit Konditionalprogrammen, wie das Rechtssystem heute auch). Der zunehmende Bedarf, die sich ausdifferenzierenden Formen der Devination zu fixieren, dürfte im 5. Jahrtausend vor Chr. zur Erfindung der (Keil-)Schrift beigetragen haben. Doch erst durch Phonetisierung (Verlautschriftlichung) und Alphabetisierung ca. 1200 vor Chr. wurde Schrift universell einsetzbar; heute würde man sagen: alltagstauglich. Weissagung, Schrifterfindung und Rechtsentwicklung stehen also in engem Zusammenhang. Das Recht gebrauchte die Schrift anfangs vor allem, um Schuldverhältnisse in Verträgen zu fixieren und Abweichungen (Variation!) von einem vertraglich gegebenen Versprechen nachweisen und rechtlich bewerten zu können. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de

    54 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 239, K06

    Play Episode Listen Later Jun 1, 2022 80:02


    Start des 6. Kapitels über die Evolution des Rechts: Ist innerhalb von autopoietischen Systemen eine Evolution möglich? Und wenn ja: Wie verläuft diese konkret? Die Einführung untersucht, inwiefern sich Darwins Evolutionstheorie und ihr Schema Variation/Selektion/Stabilisierung von der Biologie auf ein soziales System wie das Recht übertragen lässt. Also auf ein System, das durch Kommunikation operiert, und das alle Elemente, aus denen es besteht, selbst reproduziert (Autopoiesis). Zu diesem Zweck überträgt Luhmann das Darwin-Schema auf Grundbegriffe seiner Systemtheorie und präzisiert wie folgt: Variation betrifft die Elemente: Ein Element (in der Kommunikation) variiert und weicht vom bisherigen Muster der Reproduktion ab. Es bietet ein neues Reproduktionsmuster an. Selektion betrifft die Strukturen: Die Kommunikation entscheidet, ob sie die angebotene Variation annimmt oder ablehnt. Eine Annahme bedeutet, dass die Reproduktion künftig nach neuem Muster erfolgt. Die Variation ist damit anschlussfähig geworden. Die Strukturen des Systems sind verändert. Stabilisierung betrifft das gesamte System: Nach erfolgter Selektion stabilisiert sich das System wieder. (Anm.: In späteren Texten spricht Luhmann darum von Restabilisierung.) Es reproduziert sich künftig in geänderter Form. Evolutions- und Systemtheorie werden auf diese Weise zusammengeführt. Beide sind Differenztheorien, die untersuchen, unter welchen Bedingungen es zu (ungeplanten, zufälligen, sprunghaften) Strukturänderungen kommen kann. Gemeinsam ist beiden Theorien auch: Sie versuchen nicht, eine Einheit der Geschichte zu konstruieren. Stattdessen reduzieren sie Komplexität auf die Frage: Unter welchen Bedingungen kommt es zu Veränderungen? Die Annahme einer eigenständigen Autopoiesis des Rechtssystems legt nahe, dass es auch eine eigenständige Evolution des Rechtssystems gibt.

    53 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 233, K05

    Play Episode Listen Later Apr 3, 2022 84:17


    Als Form blieb die Unterscheidung Gleichheit/Ungleichheit über Jahrtausende unverändert. Was jedoch als gleich/ungleich gilt, hat sich historisch gewandelt. Ausschlaggebend hierfür waren mehrfache Wechsel der gesellschaftlichen Differenzierungsformen (segmentär, ständisch, funktional) sowie die Weiterentwicklung von Erkenntnistheorien. Um zu veranschaulichen, worauf der Gerechtigkeitsbegriff der modernen Gesellschaft aufbaut, führt Luhmann nochmals das Naturrecht an. Naturrecht ging davon aus, dass alle Dinge von Natur aus gleich oder ungleich sind. Die Erkenntnis richtete sich nach den Gegenständen. Dem Menschen, der die Dinge beobachtet, offenbart sich ihr „Wesen“ (durch Beobachtung erster Ordnung). Es tritt in „Erscheinung“. Streitigkeiten klärten Autoritäten durch dafür entwickelte Fragetechniken und Methodiken wie Dialektik. Man ging davon aus, dass These und Antithese zu einer Synthese führen, die dann mehr oder weniger zweifelsfrei als „richtige“ Meinung gelten kann. Nachdem Decartes' methodischer Zweifel („Ich denke, also bin ich“) 1641 das Subjekt begründet hatte, läutete Kants „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 die Kopernikanische Wende in der Philosophie ein: Die Gegenstände richten sich nach der Erkenntnis! Raum und Zeit sind nach Kants Transzendentalphilosophie die Formen, die dem Subjekt zur äußeren und inneren Anschauung gegeben sind. Freiheit lässt sich nicht kausal aus der Natur ableiten, sondern aus der Vernunft. Aus der Vernunft resultiert auch die Notwendigkeit, Freiheit einzuschränken. In der Aufklärung gerät der politisierte Begriff der Menschenrechte mit seinen Prinzipien von angeborener Gleichheit und Freiheit in direkten Widerspruch zum Recht, das der zugrunde liegenden Ständeordnung gefolgt war und zwischen Adel/Volk unterschieden hatte. Gleichheit und Freiheit müssen singularisiert werden, sie gelten nun für jedes Individuum. Soziale Schichtung lässt sich rechtlich nicht länger fortsetzen. Das lässt jedoch neue Widersprüche auftauchen: Wenn jedes Individuum von Geburt an frei ist, ist Recht Einschränkung von Freiheit. Und es liefert sogar erst den Anlass zur Ungleichbehandlung. Diese Paradoxien kann auch der Begriff des Zivilzustandes nicht auflösen, der dem Naturzustand (abgewählt) eilig entgegengesetzt wird. Aufgelöst werden diese Paradoxien erst durch ein re-entry. Das heißt in der Formsprache von George Spencer Brown: Das Unterschiedene wird in die Unterscheidung wieder eingeführt. Die Gleichheit der Menschen muss rechtlich akzeptierte Ungleichheit der Fälle akzeptieren. Und die Freiheit der Menschen muss akzeptieren, dass es eine rechtlich akzeptierte Notwendigkeit der Einschränkung gibt. Mit diesem re-entry vollzieht das Rechtssystem seine operative Schließung zu einem autonomen Funktionssystem. Der Evolutionsschritt besteht darin, dass der jeweils negative Wert der Unterscheidung (Ungleichheit sowie Notwendigkeit der Freiheitseinschränkung) in das Recht integriert wird – und zwar auf der Ebene von Fällen. Die Unterscheidung von gleichen/ungleichen Fällen wird zum Hauptgegenstand der rechtlichen Kommunikation. Die Grenze kann fallweise verschoben werden, ist variabel. Die Entscheidungsfindung wird kontingent: Es kommt nicht notwendig so, wie man vermuten könnte; es ist aber auch nicht unmöglich. Mit Begriffen wie Vernunft, Prinzipien oder Werten lässt sich die rechtliche Entscheidung nicht mehr herleiten, sondern eben nur noch mit der normativen Unterscheidung von gleichen/ungleichen Fällen. Das Recht wird positiv, änderbar. Die unverändert gebliebenen Begriffe und insbesondere die Menschenrechte verschleiern diese Verlagerung auf Fallebene, mit der sich das Rechtssystem als Funktionssystem schließt.

    52 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 226, K05

    Play Episode Listen Later Mar 21, 2022 64:41


    Im Rechtssystem bedeutet Gerechtigkeit konsistentes Entscheiden: Es operiert mit Konditionalprogrammen und behandelt gleiche Fälle gleich sowie ungleiche Fälle ungleich. Im Gegensatz dazu operiert das Politiksystem mit Zweckprogrammen. Die Wahl der Mittel wird mit dem Zweck legitimiert. Der Gesetzgeber kann gleiche Fälle ungleich behandeln. An dieser Stelle stellt sich darum die Frage, ob es überhaupt eine übergreifende Definition von Gerechtigkeit geben kann, die den widersprüchlichen Umgang mit Gleichheit in Rechts- und Politiksystem auf einen Nenner bringt. Als Ausweg schlägt Luhmann vor, die Kontingenzformel Gerechtigkeit ausschließlich auf das Entscheidungssystem des Rechts, die Gerichte, anzuwenden. Denn nur Gerichte müssen jeden vorgelegten Fall entscheiden, selbst wenn er unentscheidbar ist und damit eine Paradoxie vorliegt. Das Verbot der Justizverweigerung gilt nur für Gerichte. Sie bilden das Zentrum des Rechtssystems. Gerichte verkörpern das Gerechtigkeitsprinzip wie keine andere Instanz. Das bedeutet, bei der Gerechtigkeitsfrage alle Bereiche außerhalb der Gerichte auszuklammern – wie die Gesetzgebung in der Politik oder die Verträge in der Wirtschaft. Diese produzieren zwar Rechtsgeltung, und man mag ihnen unterstellen, dass sie sich um Gerechtigkeit bemühen. Aufgrund ihrer strukturellen Kopplungen mit rechtsfremden Systemen unterliegen sie jedoch völlig anderen Voraussetzungen. Eine normative, ausnahmslose Gerechtigkeitskontrolle durch Konditionalprogramme, wie sie Gerichte liefern, erfolgt dort nicht. Zudem schaffen Zweckprogramme per se Ungleichheit. Sie inkludieren eine Gruppe (Mütter, Beamte, Hausbesitzer) und exkludieren logisch alle anderen. Die Intention der Politik mag zwar „gerechte“ Umverteilung im Sinne des Wohlfahrtstaates sein. Ihre zweckorientierte Verfahrensweise produziert jedoch laufend Ungleichbehandlung. Zweckprogramme sind darum untauglich, um dem Begriff der Gerechtigkeit auf die Spur zu kommen. Die Frage, was Gerechtigkeit ist, offenbart damit Probleme der strukturellen Kopplung zwischen den Funktionssystemen Recht und Politik sowie deren Verhältnis zur Gesellschaft. Verfassungsgerichte sollen solche Probleme typisch lösen. Diese sind jedoch selbst mit den Systemen strukturell gekoppelt. Und eine Hierarchie zwischen Recht und Politik gibt es nicht. Luhmann erinnert deshalb noch einmal daran, dass Konditionalprogramme die Bedingung schlechthin dafür sind, dass Gerechtigkeit überhaupt in die Form einer Gleichheit im Sinne einer Regelhaftigkeit gebracht werden kann. Das spricht dafür, die Frage der Gerechtigkeit ausschließlich im Gerichtssystem anzusiedeln. Ausschlaggebend sind dort die Kriterien, anhand derer der Fall zugeordnet werden muss. Was gerecht ist, ergibt sich allein durch die richtige/falsche Zuordnung dieser Kriterien. Nicht mehr der Einzelfall und die „Verhältnisse“, unter denen ein Tausch oder eine Vergeltung vonstatten gingen, stehen im Vordergrund. Sondern die normative Einordnung des Falls in die Systemgeschichte. Theoretisch wäre es möglich, die Zweckprogramme der Gesetzgebung einer Gerechtigkeitskontrolle zu unterwerfen. Praxistauglich erscheint das jedoch nicht. Ein Umweltschutzgesetz müsste dann nicht nur auf den ökologischen Zweck abgeklopft werden, sondern zusätzlich auf die Frage, wie gut es in die Rechtshistorie eingepflegt werden kann. Was wäre wichtiger: Dass das Rechtssystem konsistent entscheidet – oder dass das Gesetz die Chance bekommt, den intendierten Zweck zu erfüllen? Die Funktionssysteme würden sich gegenseitig torpedieren. Kurz, die Frage, was Gerechtigkeit ist, entscheidet das Rechtssystem selbst. Die Antwort ist hier: konsistentes Entscheiden. Externe Beobachter verwenden jedoch einen anderen Gerechtigkeitsbegriff, der losgelöst ist von der operativen Geschlossenheit des Systems. (Vollständiger Text auf luhmaniac.de)

    51 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 226, K05

    Play Episode Listen Later Mar 9, 2022 61:01


    Um die historische Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs nachzuvollziehen, muss die jeweils zugrundeliegende gesellschaftliche Differenzierungsform mitbedacht werden. Ob die Gesellschaft tribal, ständisch oder funktional differenziert ist, bildet jeweils die Bedingung der Möglichkeit dafür, ein Verständnis von Recht und Gerechtigkeit zu entwickeln. In tribalen (segmentären) Gesellschaften war Reziprozität die praktizierte Norm. Die Gesellschaft war nach Familien, Stämmen und Verbänden in gleichwertige Gruppen differenziert. Diese unterstützten sich gegenseitig, vor allem durch Produktionsüberschüsse – gleichsam die Sozialversicherung jener Zeit. Gaben hatten eine wichtige Funktion: Geber und Empfänger wissen beide voneinander, dass beide voneinander wissen, dass der Empfänger einer Gabe sich bei Gelegenheit revanchieren sollte. Jede Gabe schafft eine unausgeglichene Situation, ein Schuldverhältnis. Das wird jedoch nicht mitkommuniziert. Es gibt keine Rechtsinstitution, die Ansprüche regeln könnte. Als Ersatz für die Klagemöglichkeit fungiert die offene Konditionierbarkeit der Revanche: Ob, wann und in welcher Form sich eine Gelegenheit bieten wird, ist offen. Reziprozität bedeutet doppelte Kontingenz. Erwartungen treffen aufeinander und können erfüllt oder enttäuscht werden. Die Erwartung eines als „gerecht“ empfundenen Ausgleichs wird ohne Termin in die Zukunft verschoben. Damit erfüllt Reziprozität die soziale Funktion des Rechts: normative Zukunftserwartungen kontrafaktisch zu stabilisieren. Eine Enttäuschung im Einzelfall ändert nichts an der Erwartung. Die soziale Funktion des Rechts ist von der gesellschaftlichen Differenzierungsform unabhängig! In der tribalen Gesellschaft bedeutete Gerechtigkeit vor allem Verteilung (distributiv) und Vertauschung (commutativ) sowie Vergeltung von Schuldverhältnissen. In stratifizierten (geschichteten) Gesellschaften, die allesamt über Schriftkultur verfügten, wurde die Maxime der Reziprozität an die Schichtung in Adel/Volk angepasst. Leistungen des Adels wurden höher bewertet. Die dem Recht zugrundeliegende soziale Differenzierungsform setzte sich fort, indem das Recht zwischen zwei Ständen differenzierte. In komplexeren, funktional differenzierten Gesellschaften ist Reziprozität nicht mehr praktikabel. Auch die Wirtschaft wandelt sich nun zum Funktionssystem und spuckt „Marktpreise“ aus. Der Wert einer Leistung ist im Verhältnis dazu kaum noch einzuschätzen. Die Norm verliert auch deshalb ihre praktische Bedeutung, weil Ausbildung und Profession in Recht und Politik wichtiger werden als Herkunft. Mit den entstehenden Richterrollen ist Reziprozität unvereinbar, weil dies schlicht Korruption bedeuten würde. Das Rechtssystem autonomisiert sich und entwickelt aus der Idee der Gleichheit die normative Regel, gleiche Fälle gleich zu behandeln und ungleiche Fälle ungleich. Erst durch die Zuhilfenahme des Begriffs der Gleichheit wird Gerechtigkeit definierbar: als konsistentes Entscheiden innerhalb des Rechtssystems. Darin liegt ein Abstraktionsschritt im Verhältnis zu den bisherigen Rechtsvorstellungen. Das Rechtssystem entfernt sich von der Einzelfallbetrachtung und reproduziert stattdessen seine eigenen Entscheidungen. Die Betrachtung verlagert sich weg von der Frage, was jemandem „mehr oder weniger“ zusteht (als Ausgleich oder Strafmaß) – hin zu der komplexen Frage, wie man den Fall anhand von rechtmäßigen Kriterien als gleich oder ungleich zuordnen kann. Die Kriterien legt das Rechtssystem autonom fest. Es macht sie in Textstellen identifzierbar, auf die es sich in seinem selbstreferentiellen Netzwerk bezieht. Bedeutung gewinnt nun die Frage, ob die Kriterien richtig/falsch zugeordnet werden. (Vollständiger Text auf Luhmaniac.de)

    50. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 223, K05

    Play Episode Listen Later Feb 13, 2022 54:21


    Gerechtigkeit wird traditionell oft mit Gleichheit gleichgesetzt: Gleiche Behandlung in gleichen Fällen leuchtet als gerechte Behandlung ein. Gleichbehandlung lässt sich zudem durch Regeln formulieren, d.h. man kommt damit auf eine operative Ebene, die praktisch handhabbar ist. Doch damit ist noch nicht definiert, was Gerechtigkeit ist. Erst der Begriff der Gleichheit komplettiert die Kontingenzformel Gerechtigkeit: Bei der Unterscheidung von Recht/Unrecht müssen ungleiche Fälle logisch ungleich behandelt werden. Die normative Unterscheidung gleich/ungleich lässt sich wiederum der Unterscheidung unterwerfen, ob die Zuordnung richtig/falsch erfolgt, also rechtens ist. Tatsächlich ist Gleichheit ebenso wie Gerechtigkeit kein Wert, sondern ein Differenzprinzip. Sie ist eine weitere Kontingenzformel, d.h.: ein Schema der Suche nach Gründen und Werten. Kontingenzformeln ermöglichen eine höhere Abstraktionsstufe: Die Kommunikation thematisiert die Differenz zwischen gleich/ungleich bzw. gerecht/ungerecht. Um eine Entscheidung zu finden, kreuzt die Kommunikation beide Seiten der Form und macht so die Differenz zum Thema. Die Formel spezifiziert sich selbst. Zu beachten ist, dass Gleichheit immer zusätzliche Kriterien braucht, die variieren können. Welche selektiert werden, hängt auch von der gesellschaftlichen Differenzierungsform ab. So galt bei Aristoteles „soziale Gleichheit“ nur für freie Männer, nicht für Sklaven und Frauen. Seine Gerechtigkeitstheorie ging von einer stratifizierten Gesellschaftsordnung aus, in der alle Menschen durch Geburt einen unterschiedlichen sozialen Rang hätten. (Stratifiziert: geschichtet, von lat. stratum: Schicht.) Die Gesellschaft war anders nicht vorstellbar. Auch die Rechtsentwicklung folgte diesem Schema und differenzierte nach Rang qua Geburt. Im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft musste der Bezug auf Rang durch Bezugnahme auf Funktion ersetzt werden. Das Rechtssystem ist heute ein operativ geschlossenes Funktionssystem. Gleichzeitig ist es mit dem Gesellschaftssystem jedoch strukturell gekoppelt: Durch Kommunikation können sich Systeme gegenseitig irritieren. (Die Theorie sozialer Systeme benutzt den Ausdruck Irritabilität. In eine ähnliche Richtung deuten andere Theorien mit den Begriffen „Responsivität“ oder „Sensitivität“.) An dieser Verbindungsstelle ist der Begriff Gerechtigkeit unerlässlich: Er hat die Funktion, die strukturelle Kopplung zwischen den Systemen zu stabilisieren. „Kontingenzformel“ weist auf diese externe Beobachterperspektive hin: auf das Verhältnis zum Gesellschaftssystem, in dem das Rechtssystem operiert und das für es als Voraussetzung gegeben ist. Ob eine rechtliche Entscheidung Gerechtigkeit schafft, wird in der Umwelt vor allem nach moralischen Kriterien bewertet. Aus sozialer Perspektive ist Gerechtigkeit darum kontingent: „Es kann auch anders kommen“. Bei Kontingenzformeln geht es also um das Verhältnis zwischen Systemen. Bei zunehmender Komplexität des Gesellschaftssystems müssen Funktionssysteme darum auch eine adäquate Komplexität für konsistentes Entscheiden aufbauen. Adäquität wird durch Redundanz und Variation erzeugt, durch das Verhältnis von Wiederholung und Abweichung von der Wiederholung in ungleichen Fällen. Dazu später mehr im 8. Kapitel über Argumentation.

    49. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 218, K05

    Play Episode Listen Later Jan 27, 2022 76:26


    Warum die Idee der Gerechtigkeit als „Kontingenzformel“ zu verstehen ist. Kontingenz bedeutet zunächst ganz allgemein: Es kann auch anders kommen. Eine Enttäuschung im Einzelfall ändert jedoch nichts an der normativen Erwartung. In der Theorie sozialer Systeme ersetzt der Begriff Kontingenzformel eine Reihe althergebrachter Kategorien, mit denen Gerechtigkeit bisher oft definiert wurde: Wert, Prinzip, Idee, Tugend. Der Begriff ersetzt diese Kategorien jedoch nicht vollständig. Stattdessen müssen zwei Perspektiven unterschieden werden. Aus der internen Perspektive des Rechtssystems ist Gerechtigkeit zweifellos die oberste Norm: Alle Entscheidungen sollen Gerechtigkeit schaffen. Diese Norm stellt für das System durchaus einen Wert dar, man kann sie als Prinzip verteidigen oder für eine „Tugend“ halten. Aus der Umweltperspektive eines externen Beobachters jedoch kann dieselbe Rechtsentscheidung, die im System Gerechtigkeit verkörpert, ungerecht erscheinen. Aus dieser Beobachterperspektive ist Gerechtigkeit eine Kontingenzformel. Gerechtigkeit wird erwartet, aber Enttäuschung ist nicht ausgeschlossen. Die Begriffswahl soll zudem klarstellen, dass es eine Bezeichnung braucht, die alles abstreift, was durch die einstige Vorstellung eines Naturrechts auch die Vorstellungen von Gerechtigkeit begrifflich mitgeprägt hatte. Da es keine Beziehung zwischen Natur und Recht gibt, gibt es auch keine zwischen Natur und Gerechtigkeit. Wertbegriffe würden zudem Vorstellungen anderer Systeme ins System importieren. Das ist für ein operativ geschlossenes System ausgeschlossen. Besonders gut sieht man das am Wertbegriff der Tugend, der z.B. Keuschheit und Demut umfasst. Derlei Kategorien spielen bei der Entscheidungsfindung im Recht keine Rolle. „Prinzip“ verweist auf Kants Kategorischen Imperativ und die Ethik. Und „Ideen“ sind seit Platon Erscheinungen, die sich von sich aus offenbaren. Mit all dem lässt sich jedoch weder Recht von Unrecht unterscheiden noch Gerechtigkeit definieren. Stattdessen spezifiziert sich die Formel selbst. Die Unterscheidung Recht/Unrecht produziert eine Rechtsentscheidung, die einer weiteren Unterscheidung unterzogen werden kann: Ist die Entscheidung gerecht oder ungerecht? Die Antwort soll positiv ausfallen. Dies ist jedoch weder exakt bestimmbar noch abschließend definierbar. Es kommt auf die Perspektive des externen Beobachters an. Die Funktion einer Kontingenzformel liegt somit in der Differenz zwischen Bestimmbarkeit/Unbestimmbarkeit. Die Grenze zwischen den Begriffen soll gekreuzt werden. Dabei ist der Gegensatz bestimmbar/unbestimmbar selbst paradox, denn wenn man etwas bestimmt (durch Unterscheidung und Bezeichnung), bestimmt man das damit Ausgeschlossene gleichzeitig mit. Man bestimmt also das Unbestimmbare – eine Paradoxie. D.h. Kontingenzformeln stellen gewählte Lösungen in Frage. Die Kommunikation kreist um Fragen, welche anderen Möglichkeiten es gäbe. Innerhalb der Modalkategorien Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit schließt Kontingenz die Notwendigkeit (im Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung) aus. Der Bereich des Kontingenten beinhaltet das Spektrum dessen, was rechtlich möglich ist und was man als Wirklichkeit ansehen muss. Die Grenzen sind verschiebbar. Tugenden, Prinzipien, Ideen usw. sind demnach Ausformungen der Kontingenz: Aus dem Spektrum der Möglichkeiten verkörpern sie das, was wirklich geworden ist – durch Selektion genau dieser Möglichkeiten und Ausschluss von anderen. Auf diese Weise wird Gerechtigkeit kanonisiert und bleibt wandelbar. Die Tugend kann abgewählt werden, Gerechtigkeit nicht. Die Funktion, die Grenze zwischen bestimmbar/unbestimmbar zu kreuzen, ist eine unausgesprochene, latente Funktion. Dass der Begriff diese Funktion hat, wird nicht mitkommuniziert. Die Paradoxie, dass Gerechtigkeit sowohl bestimmbar sein soll als auch nicht endgültig bestimmbar ist, wird invisibilisiert.

    48. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 214, K05

    Play Episode Listen Later Jan 9, 2022 88:25


    Start des 5. Kapitels über die „Kontingenzformel Gerechtigkeit“. Was ist Gerechtigkeit? Lässt sich das überhaupt abschließend definieren? Um das Problem einzukreisen, limitiert Luhmann das Spektrum möglicher Fragen. Er führt Unterscheidungen ein und legt dadurch fest, welche Fragestellungen er weiterverfolgen will und welche nicht. Das Ergebnis fasst er am Abschnittsende auf Seite 218 zusammen. 1. Offenbar handelt es sich bei dem Begriff Gerechtigkeit um Selbstreferenz als Beobachtung. Diese ist zu unterscheiden von Selbstreferenz als Operation. Als Operation bedeutet Selbstreferenz, dass sich das Rechtssystem in der Kommunikation auf seinen binären Code bezieht, indem es zwischen Recht und Unrecht unterscheidet. Als Beobachtung bedeutet Selbstreferenz, dass sich das System bei seinen Operationen beobachtet: ob die Unterscheidung vollzogen wird, und ob die Kriterien zur Anwendung dieser Unterscheidung richtig oder falsch angewendet werden. Selbstreferenz wird also in zwei analytisch unterscheidbare Formen unterteilt. (Wobei die Beobachtung der eigenen Operationsweise wiederum selbst Thema der Kommunikation werden kann: Wenn nachgefragt wird, ob die Kriterien richtig/falsch angewendet wurden.) 2. Als weiterer Punkt lässt sich festhalten, dass Gerechtigkeit auf der Ebene von Programmen angesiedelt sein dürfte. Aber nicht als irgendein Programm unter anderen, so als könnte man mal mit, mal ohne Gerechtigkeit operieren. Sondern als eine Art Programm aller Programme, das alle Konditionalprogramme (Wenn-dann-Programme) anleitet, mit deren Hilfe zwischen Recht und Unrecht unterschieden wird. Programmebene heißt zugleich, dass das Problem „Was ist Gerechtigkeit?“ nicht auf der Ebene des Codes angesiedelt ist. Denn dann müsste man zwischen Recht, Unrecht und „gerechtem Recht“ unterscheiden. Das System würde sich selbst blockieren. Stattdessen soll die Unterscheidung der Code-Werte stets Gerechtigkeit hervorbringen. Das „Ergebnis“ erscheint wie eine Art dritter Wert, ist aber wie gesagt kein Code-Wert. 3. Der Begriff „sollen“ deutet bereits darauf hin, dass Gerechtigkeit die Form einer Norm hat. Normen sind das, „was gesollt ist“: Es handelt sich um Erwartungen, die auch enttäuscht werden können. Das bedeutet, dass es auch Rechtssysteme geben kann, die die Erwartung von „gerechten“ Entscheidungen enttäuschen können. Aber wessen Erwartungen? Hier ist zwischen der Umweltperspektive und der Binnenperspektive des Rechtssystems zu unterscheiden. Was die Gesellschaft und die anderen großen Funktionssysteme wie Wirtschaft oder Politik für gerecht halten, muss nicht mit der Gerechtigkeitsvorstellung des Systems übereinstimmen. Aus der Perspektive des Rechtssystems ist Gerechtigkeit eine selbstreferentielle Norm. Das System konfrontiert sich selbst damit, dass es durch die Unterscheidung von Recht und Unrecht eine Entscheidung hervorbringen soll, die im System nach systeminternen Normen für gerecht erklärt werden kann (und bei der Umwelt durchgeht, könnte man sagen). Die Überschrift des Kapitels deutet es an: Gerechtigkeit erscheint nach diesen Vorüberlegungen zunehmend wie eine „Kontingenzformel“. Es liegt nahe, dass es auch anders kommen kann. Was damit gemeint ist, folgt im nächsten Abschnitt.

    47. Rueckblick Kapitel 4: Codierung und Programmierung

    Play Episode Listen Later Dec 18, 2021 72:10


    Auch für diese Episode gibt es einen ausführlichen Begleittext, der dieses mal jedoch etwas umfangreicher ist und deshalb nur auf unserer Website erscheint: https://www.luhmaniac.de/podcast/rueckblick-kapitel-4-codierung-programmierung

    46. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 211, K04

    Play Episode Listen Later Nov 21, 2021 61:16


    Wie das Rechtssystem mit Verfahren seine operative Geschlossenheit und Eigenzeitlichkeit stabilisiert. Der letzte Abschnitt des 4. Kapitels hebt hervor, dass Produktion und Struktur des Rechtssystems zwar analytisch als zwei Operationen auseinandergehalten werden können. Empirisch sind sie jedoch nicht voneinander zu trennen. Das System produziert Recht und gleichzeitig Kommunikationsstrukturen. Die Zeitdimension spielt dabei eine herausragende Rolle. Wie der vorige Abschnitt zeigte, verschafft sich das System durch Verfahren die Zeit, die es braucht, um zu einer Entscheidung zu kommen. Mit der Eröffnung eines Verfahrens wird Ungewissheit erzeugt, die im Verlauf des Verfahrens reduziert und zum Abschluss des Verfahrens ganz negiert wird. Mit dem Verfahren reproduziert das Rechtssystem einerseits seine Eigenzeitlichkeit und synchronisiert sich andererseits mit anderen Systemen seiner Umwelt, so weit dieses erforderlich ist. Um die operative Geschlossenheit des Rechtssystems zu gewährleisten, schließt das Rechtssystem nicht an die Systemgeschichte der beteiligten Systeme an, sondern überträgt selektiv rechtsrelevante Ereignisse in seine eigene und macht sich so unabhängig von externen Bedingungen. Codierung und Programmierung sind unabhängig von der Eigenzeitlichkeit des Verfahrens. Bei der Unterscheidung zwischen Recht/Unrecht berücksichtigen die Programme nur rechtsrelevante Fakten. Alles andere wird abgeschnitten, also auch Umweltzeiten, die nicht rechtsrelevant sind. Zwei Beispiele sind das Grundbuch, das nur Eigentümerverhältnisse zum Zeitpunkt X festhält und keinerlei weitere Informationen. Und die Verjährung, die jegliche Rechtsrelevanz von Fakten aufhebt, wenn eine Frist überschritten ist. Die Eigenzeitlichkeit betrifft auch den Umgang mit Zukunft. Ein rechtskräftiges Urteil bezieht sich auf rechtsrelevante Fakten in der Vergangenheit und wirkt in die Zukunft hinein. Mit dieser Form „zeitlicher Selbstjustiz“ verhindert das Rechtssystem, dass unvorhersehbare Umweltbedingungen das System belasten werden. D.h.: Das System schneidet die Möglichkeit ab, dass sich die Umwelt auf (rechtlich irrelevante) Umweltzeiten beziehen kann. Dieser Cut festigt die operative Schließung als autonomes, ausdifferenziertes Funktionssystem. Das System produziert eigene Zukünfte und eigene Vergangenheiten, als die Zeithorizonte jeweils einer Vergangenheit. Der soziale Preis dafür ist zeitliche Desintegration in Bezug auf die Eigenzeitlichkeiten der Gesellschaft. Kompensiert wird die zeitliche Desintegration durch rechtliche Einrichtungen. Hervorhebenswert ist die jederzeitige Ansprechbarkeit: Jeder kann das Rechtssystem jederzeit nutzen. Außerdem wird durch detaillierte Spezifikation zugesichert, dass sich das System so viel Zeit nimmt, wie es eben braucht. Man könnte sagen: Man kann sich darauf verlassen, dass gründlich gearbeitet wird.

    45. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 207 K04

    Play Episode Listen Later Oct 31, 2021 77:47


    Warum das Verfahren zu den bedeutendsten evolutionären Errungenschaften zählt. Durch Programme verschafft sich das Rechtssystem Zeit, die es benötigt, um die Code-Werte Recht/Unrecht zuzuorden. Dies geschieht in der Form eines Verfahrens. Verfahren sind durch Anfang und Ende markiert. Die rein logische Unterscheidung von Recht/Unrecht wird damit temporalisiert: Die Entscheidung wird in die Zukunft verlagert. Es handelt sich um selbsterzeugte Ungewissheit, wie das Verfahren ausgehen wird („Schleier des Nichtwissens“, Rawls) bei gleichzeitiger Zuversicht, dass es zu einer Entscheidung kommen wird. (Unter Entscheidung verstehen wir an dieser Stelle: Urteil.) Die Ungewissheit des Verfahrensausgangs bedeutet einen dritten Wert für das System – ohne dass es diesen in den Rang eines Code-Wertes erheben müsste. Im Gegenteil: Das System schöpft den Wert des Verfahrens allein aus seinem binären Code heraus, indem es verspricht, sich nur an den Code zu halten und dafür lediglich Zeit zu benötigen. Es stabilisiert mit dieser Aussicht normative Zukunftserwartungen (seine gesellschaftliche Funktion per se). Und es kann sich selbst dabei beobachten und bezeichnen, indem es auf den ungewissen Ausgang des laufenden Verfahrens verweist. Aus dieser selbstreferentiellen Operationsweise hat sich ein Verfahrensrecht entwickelt, das säuberlich von materiellem Recht unterschieden wird. Verfahrensrecht macht nun eine weitere Unterscheidung im System notwendig: Um die Code-Werte zuzuordnen, braucht es Kriterien. Das System muss zusätzlich unterscheiden, ob es die Kriterien richtig oder falsch anwendet. Auch bei der Anwendung dieser Normen muss es zudem die Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens aufrechterhalten. Vollständiger Text auf der Website https://www.luhmaniac.de/podcast

    44. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 204 K04

    Play Episode Listen Later Oct 10, 2021 46:59


    Über das Verhältnis von Codes und Programmen in Funktionssystemen: Die Paradoxie, dass die Differenz des Codes Recht/Unrecht eine Einheit bildet und für sich proklamiert, Recht zu sein, tritt in den Programmen wieder zutage und befruchtet die Weiterentwicklung des Rechts. Codes und Programme ergänzen einander. Für sich genommen, sind die invarianten Codes der Funktionssysteme noch „leer“. Allein mit der Unterscheidung von Recht/Unrecht kann man keinen Sinn erzeugen, solange ein Bezugspunkt fehlt, ein konkreter „Fall“. Das System könnte weder wachsen noch sich verändern. Woran sollte es seine Autopoiesis vollziehen? Durch Konditionalprogramme definiert das Rechtssystem daher Wenn-Dann-Bedingungen, die regeln, was unter welcher Bedingung Recht sein soll. Die Autopoiesis kommt in Fahrt, indem sich das System auf Konditionen bezieht, die sich stets auf den Code beziehen. Erst auf diese Weise kann es wachsen, ist veränderungsfähig und in dieser Dynamik stabil. Anm.: Durch Konditionalprogramme managen Systeme auch ihr Verhältnis von Inklusion/Exklusion gegenüber der Gesellschaft. Sie bilden Organisationen und stellen Bedingungen sowohl für Mitgliedschaft als auch für Inanspruchnahme auf. Funktionssysteme sind prinzipiell offen für alle (jeder hat Rechtsanspruch). Durch hochspezifische Auswahlkriterien beschränken sie jedoch die Mitgliedschaft und den Zugang. Im Gericht entscheiden nur Richter, in Kanzleien Anwälte, etwa ob eine Klage zulässig ist. In der Praxis blitzt die zugrundeliegende Paradoxie des Rechts, dass die Differenz von Recht/Unrecht eine Einheit bildet, immer wieder hervor. Z.B., wenn ein Fall unentscheidbar erscheint. Unentscheidbarkeit würde bedeuten, das Recht könnte seine soziale Funktion nicht mehr ausüben. Die Autopoiesis käme zum Erliegen. Die Lösung ist Richterrecht. Es ist verboten, eine Entscheidung zu verweigern. Die Paradoxie tritt als widersprüchlicher Fall auf und sorgt so dafür, dass die Kommunikation über dieses Problem einen Ausweg findet. D.h. die Paradoxie ist fruchtbar, sie befruchtet die Evolution des Rechts. Auch am Problem des Rechtsmissbrauchs tritt die Paradoxie auf. Wenn Recht Ungerechtigkeit produziert, steht die Souveränität des Rechts in Frage. In der Formsprache von George Spencer Brown ist Rechtsmissbrauch ein re-entry: ein Wiedereintritt der Form in die Form. Eine Unterscheidung wird in das Unterschiedene wieder eingeführt. Aber nur auf einer Seite, nur auf der Seite des Rechts. Das Wort Recht taucht zweimal auf. Wenn Entscheidungen keine Gerechtigkeit schaffen, enthüllt sich also die zugrundeliegende Paradoxie des Rechtssystems. Genau daran entzündet sich die Kommunikation und findet neue Lösungen. Dass die Kommunikation im Rechtssystem ständig die Grenze zwischen Recht/Unrecht kreuzt („crossing der Grenze der Form“), mag unbewusst geschehen. Spätestens bei der Festlegung jedoch, wenn begrifflich „markiert“ wird, was nun Recht sein soll, wird offensichtlich, dass diese Entscheidung beide Seiten gleichzeitig betrifft. Jede Definition, was Recht ist, definiert gleichzeitig mit, was Unrecht ist. Ein Urteil ist geltendes Recht. Darum ist auch missbrauchtes Recht logisch geltendes Recht. Kurz, aus der Paradoxie gibt es kein Entrinnen. Das Rechtssystem beruht auf ihr. Die Paradoxie beflügelt die Evolution, indem sie Widersprüche aufzeigt, wenn das Recht keine Gerechtigkeit zu schaffen scheint. Genau daran wächst das System.

    43. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 199 K04

    Play Episode Listen Later Sep 26, 2021 79:34


    Das Rechtssystem operiert grundsätzlich nur auf Basis von Konditionalprogrammen, nicht von Zweckprogrammen. Das ist auf die typische Art der zeitlichen Modalisierung in der Rechtskommunikation zurückzuführen, die sich aus der Verwendung des Rechtscodes Recht/Unrecht ergibt. Zweckprogramme intendieren jeweils die Erfüllung eines Zweckes - wobei die Erfüllung als Erwartung zeitlich notwendigerweise in der Zukunft liegt. Zweckprogramme implizieren ebenfalls als künftige Verhaltenserwartung die Suche und den Einsatz geeigneter Mittel, sind also offen bezogen auf die Wahl der Mittel. Konditionalprogrammen liegt eine Kontrollfunktion zugrunde, welche sich in „Wenn-Dann-Beziehungen“ ausdrückt. Ihnen mögen ebenfalls künftige Erwartungen in Form von Zwecken beigelegt werden, sie sind jedoch auf die Beobachtung von Vergangenheit (WENN) ausgerichtet, um gegenwärtiges Verhalten (DANN) zu evozieren. Daraus läßt sich schließen, dass Konditionalprogramme gegenüber Zweckprogrammen selbst Intensionslos sind, denn: Wenn nichts passiert (keine Bedingung erfüllt wird), dann folgt daraus auch nichts. Konditionalprogramme verhalten sich neutral bezogen auf die Zukunft, die Folgen ihrer eigenen Operationen, und können deshalb auch nicht als Mittel anderen Zweckprogrammen subsumiert werden. Vielmehr limitieren sie die Wahl der Mittel von anderen Zweckprogrammen und bilden für diese genauer betrachtet einen Widerstand; sie folgen dabei einem anderen Motiv als der Zweckerfüllung. „Programme des Rechtssystems sind immer Konditionalprogramme.“ (Luhmann, RdG, S.195) Diese These wird nicht etwa dadurch widerlegt, dass ein Rechtsurteil mit einer Zweckbestimmung begründet wird, z.B. mit dem Kindeswohl in einem Sorgerechtsstreit. Der Abschnitt IV des Kapitels „Codierung und Programmierung“ ist mit eingehenden Fallanalysen maßgeblich darauf ausgerichtet, Luhmanns These mit der Ausräumung solch augenscheinlicher Widersprüche zu belegen. Im folgenden werden wir versuchen, die Argumente am Fall des Sorgerechtsstreits wiederzugeben und zu interpretieren, um die o.g. These zu belegen. Der Richter, wie auch das Gericht, werden nur zum Zeitpunkt der Verhandlung in der Sache einer einzigen Entscheidung konsultiert. Sie waren weder vorher, noch werden sie nach dem Urteil an der Erziehung des Kindes beteiligt sein. Richter und Gericht tragen keine Verantwortung für das Kind, sondern lediglich für ihr Urteil und ihre Entscheidung in dieser Angelegenheit. Das Kindeswohl tritt in der Perspektive des Richters nicht als Zwecksetzung auf, sondern als ein Urteils-Kriterium. Als Zwecksetzung wird das Kindeswohl den beiden Streitparteien (Vater und Mutter) unterstellt; sie konkurrieren um das Vorrecht, die Kindeserziehung übernehmen zu können, sie können sich aber nicht darüber einigen, wessen Erziehung für das Kind die Beste sei. Da ein fortdauernder Streit für das Kind sicherlich nicht das Beste ist, wird der Richter herangezogen, um den Streit nach dem Kriterium des Kindeswohls abzuschließen. - D.h. der Richter wird sich niemals dafür rechtfertigen müssen, dass die Erziehung des Kindes als Folge seiner Entscheidung gescheitert ist; wohl aber wird er sich für Verfahrensfehler im Verlauf der Verhandlung verantworten müssen, wenn er z.B. die Sorgfaltspflicht bei der Prüfung vorliegender Fakten vernachlässigt hat. (Ganzer Text auf Luhmaniac.de)

    42. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 195 K04

    Play Episode Listen Later Sep 9, 2021 90:56


    Warum gibt es im Rechtssystem nur Konditionalprogramme, keine Zweckprogramme? Der wichtigste Grund ist: Nur durch Wenn-dann-Bedingungen kann das System in der Kommunikation laufend zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden. Selbstreferenz heißt, das System bezieht sich auf sich selbst. Die Kommunikation unterscheidet zwischen Recht und Unrecht. Alle Fakten werden darauf limitiert, ob sie sich dem Code zuordnen lassen. Fremdreferenz bedeutet, die Kommunikation bezieht sich auf die Umwelt – aber nur, um rechtsrelevante externe Fakten herauszufiltern. Diese behandelt das System dann wieder strikt nach systeminternen Normen. Insofern sind operativ geschlossene Systeme der Umwelt gegenüber kognitiv offen. Nur Konditionen machen es möglich, immer feinere Unterscheidungen einzuziehen bei der Beurteilung, ob etwas Unrecht oder Unrecht ist. Das System kann sich ausdifferenzieren. Durch sein Konditionalprogramm konstruiert sich das Rechtssystem selbst als Trivialmaschine: Bei gleichem Input kommt das gleiche Output heraus. Gleiche Fälle werden gleichbehandelt. Und das Urteil unterscheidet garantiert zwischen Recht und Unrecht. Konditionalprogramme sind eine evolutionäre Errungenschaft, die bereits vor rund 5000 Jahren bald nach der Erfindung der Schrift in Mesopotamien in Texten nachweislich ist. Simple Wenn-dann-Verknüpfungen strukturieren die Welt. Sie ordnen Komplexität, ohne sie zu diesem Zeitpunkt bereits logisch begründen zu können. Konditionen verknüpfen Ursache und Wirkung: Wenn etwas so und so ist, dann soll das und das gelten. Konditionalprogramme, die eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung herstellen (Kausalität), entwickelten sich also sehr viel früher als die Fähigkeit zu logischem Denken, bei der von der Wirkung ausgehend auf die Ursache zurückgeschlossen wird. Ein solches Mehr-Ebenen-Denken entwickelte sich erst ab dem 5. Jh. v. Chr. bei den „alten Griechen“, allen voran Aristoteles. Weil Konditionalprogramme seit Jahrtausenden praktiziert werden, haben sie entsprechend stark und früh die Rechtsvorstellungen der Gesellschaft geprägt. Die jeweilige gesellschaftliche Differenzierungsform (ob tribal nach Stämmen, ständisch nach Adel/Volk oder funktional differenziert wie heute) ist für Konditionen nur ein Kontext, in dem zwischen Recht oder Unrecht unterschieden wird. Dabei operiert das Recht stets zeitlich nachgeschaltet, es arbeitet Ereignisse aus der Vergangenheit auf. Das bedeutet jedoch nicht, dass es die Zukunft nicht im Blick hätte. Beispiele dafür sind die Rechtsberatung zu geplanten Vorhaben. Oder Erlaubnisnormen, die ebenfalls an Konditionen geknüpft sind. Erlaubt wird ein zukünftiges Verhalten, freilich ohne zu wissen, ob die Erlaubnis je in Anspruch genommen werden wird. Kurz, Konditionalprogramme können zukunftsoffene Programme sein. Ohnehin liegt die gesamtgesellschaftliche Funktion des Rechts darin, normative Verhaltenserwartungen für die Zukunft zu erzeugen und zu stabilisieren. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung schließt zugleich aus, dass zukünftige, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht vorhandene Fakten bei der späteren Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht eine Rolle spielen könnten. In diesem Ausschluss von zukünftigen Tatsachen in der zukünftigen Gegenwart findet sich der große Unterschied zum Zweckprogramm. (Ganzer Text auf luhmaniac.de)

    41. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 191 K04

    Play Episode Listen Later Aug 17, 2021 87:00


    Funktionssysteme wie Recht, Politik oder Wirtschaft operieren mit zweistelligen Codes, die kompromisslos sind und darum unversöhnlich wirken: Es gibt nur Recht oder Unrecht, Regierungsmacht oder Machtlosigkeit der Opposition, zahlen oder nicht zahlen – kein Dazwischen. Anders ist es auf der Programmebene. Erst durch Programme können Systeme ihr Verhältnis zur Gesellschaft gestalten und soziale Probleme ggf. abfedern. Programme interpretieren den Code. Durch Wenn-dann-Bedingungen (Konditionen) legen sie fest, wie in welchem Fall zu entscheiden ist. Die Binarität des Codes zwingt dazu, die Möglichkeit, sich für die andere Seite zu entscheiden, stets mit zu durchdenken. Kurz, durch Programme reintegrieren sich Systeme in die Gesellschaft. Der Code alleine ist leer. Erst durch Programme wird er mit Sinn gefüllt. In der vormodernen europäischen Gesellschaft erfüllte das Naturrecht eine solche Ausgleichsfunktion. (Vormoderne verstehen wir hier als den Zeitraum etwa vom 16. bis zum 19. Jh., in dem die stratifizierte, in Adel und Volk geschichtete Gesellschaft ihren Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft vollzog. Gekennzeichnet ist diese Epoche durch Säkularisierung und eine Aufklärung, die das religiöse Welterklärungsmodell in Frage stellt und eigenes Denken fordert. Beispielhaft hierfür: René Descartes, „Ich denke, also bin ich“.) Zunächst wurde die Natur als Gottes perfekte Schöpfung normativ vorausgesetzt. Rechtlich leitete man daraus ab, dass Schichtung die natürliche Form des Zusammenlebens von Menschen wäre. Der privilegierte Stand des Adels und das Eigentum wurden zwar als menschgemachtes (positives) Recht geführt – darüber stand jedoch hierarchisch das gottgewollte Naturrecht, auf das man sich berufen konnte. Vollständiger Text auf unserer Website https://luhmaniac.de

    40. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 187 K04

    Play Episode Listen Later Jul 26, 2021 67:52


    Ein Code allein macht noch kein Funktionssystem aus. Erst mit der „Zusatzsemantik“ von Programmen kann sich ein System an die Umwelt anpassen. Binäre Codes wie die Unterscheidung von Recht und Unrecht sind nicht einfach nur Prinzipien. Sie sind die leitende Unterscheidung, an der sich alle Operationen des Systems orientieren (auch Leitdifferenz genannt). Dennoch reicht ein Code nicht aus, um das System zu reproduzieren. Der Grund ist, dass Codes nicht variabel sind. Sie stehen fest. Weder zeitlich noch sachlich können sie an die Umwelt „angepasst“ werden. Zeitlich ist der Code invariant. Er ist bereits das „Ergebnis“ einer evolutionären Entwicklung in der Vergangenheit. Das Recht hat sich als alleinzuständiges Funktionssystem für die Unterscheidung von Recht und Unrecht ausdifferenziert. Es hat sich der Umwelt jedoch nicht „angepasst“. Stattdessen grenzt sich das Recht selbst durch seinen Code von der Umwelt ab. Es konstruiert sich durch diesen Code, und es konstruiert damit gleichzeitig die Umwelt als alles andere, das nicht zum System gehört. Die System-Umwelt-Differenz zieht das System, nicht umgekehrt. Es gibt keine Anpassung. Der Code kann auch nicht gegen einen anderen ausgetauscht werden, weil man dann in einem anderen System operieren würde, etwa in der Wirtschaft. Ebenso wenig kann der Code um dritte oder weitere Werte ergänzt werden, wie z.B. der Versuch gezeigt hat, zwischen Recht, Unrecht und Gemeinnutz zu unterscheiden. Bereits mit dritten Werten wird die Komplexität zu hoch. Das System wird zu langsam und schwerlich entscheidungsfähig. Auf der Sachebene wiederum reicht der Code nicht aus, um damit Informationen zu produzieren. Die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht produziert nur eine Tautologie. Das eine ist das Gegenteil des anderen. Damit ist nichts gesagt. Man produziert eine Leere. Wendet man die Unterscheidung auf sich selbst an und fragt, ob es recht oder unrecht ist, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, landet man bei einer Paradoxie. Die Anwendung der Unterscheidung auf sich selbst (re-entry, Wiedereintritt der Form in die Form, George Spencer Brown) erzeugt einen blinden Fleck, weil man die Form, mit der man beobachtet (etwas unterscheidet und bezeichnet) nicht gleichzeitig mitbeobachten und mitbezeichnen kann. Im Laufe der Geschichte hat das Recht dieses Problem zu lösen versucht, indem es den symmetrischen Code asymmetrisiert hat. Auf der Codeseite „Recht“ wurden Hierarchien eingezogen. Über dem irdischen Recht gab es demnach höheres, höchstes, ewiges Recht, das auf der Meta-Ebene stünde und invariant sei (nach Aristoteles' Meta-Physik: Meta heißt über). Nach unten hin, in die irdische Praxis, wo Fälle entschieden werden müssen, hat man dieses invariante Recht dann varierbar, also zeitlich und sachlich handhabbar gemacht – durch das Welterklärungsmodell der Emanation (Offenbarung, Erscheinung), demnach die Gesamtwirklichkeit hierarchisch strukturiert wäre. Der Begriff „Meta“ zeigt an, dass in Logik und Linguistik diese Erklärungsversuche zumindest semantisch noch nachwirken. Die Theorie sozialer Systeme löst diese Paradoxie des Codes prinzipiell anders auf, nämlich mit Hilfe der systeminternen Unterscheidung von Codierung und Programmierung. Der Code selbst ist, wie gesagt, invariant. Er reflektiert nur das Problem, dass es eine Paradoxie gibt. Erst durch das Einziehen von Wenn-dann-Bedingungen regelt das System, unter welchen Bedingungen etwas Recht oder Unrecht sein soll. Diese eingefügten Konditionen zwingen dazu, jeden Sachverhalt (Information, Kommunikation) einem der Werte zuzuordnen. Der Code ist die Bedingung für Bedingungen. Er ist die Voraussetzung für Programme, die Bedingung ihrer Möglichkeit. Das Urprogramm.

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